Vor 50 Jahren, im Dezember 1975, ging der sowjetische Überschalljet Tupolew Tu-144 bei Aeroflot in den Liniendienst. Rund zwei Monate vor der britisch-französischen Concorde.

Der Entwurf der Tu-144 geht auf eine Idee des 1888 geborenen Flugzeugkonstrukteurs Andrei Nikolajewitsch Tupolev zurück. Sein Name steht bis heute für erfolgreiche zivile und militärische Muster der sowjetischen Luftfahrt. Nach seinem Tod im Jahr 1972 übernahm sein Sohn Alexei Andrejewitsch Tupolew die Leitung der am Werksflugplatz Moskau-Zhukovsky ansässigen Tupolev-Flugzeugwerke.

Vater und Sohn waren beide Augenzeugen des Erstfluges des Tu-144-Prototyps am 31. Dezember 1968, der an jenem eisigen Wintertag als erster Überschall-Passagierjet der Welt an den Start ging. 17 Maschinen, einschließlich dieses Prototyps, verließen die Endmontagelinien in Zhukovsky und Woronesch, wobei letztere sämtliche Serienflugzeuge der Versionen Tu-144S und Tu-144D produzierte.

Technik Museum Sinsheim, Tu-144 Cockpit, Tupolev
Das Cockpit des Überschalljets Tu-144 entsprach dem technischen Standard der sechziger Jahre. Bild: Auto & Technik Museum Sinsheim

Damit waren die Sowjets ihren britisch/französischen Wettbewerbern und deren Concorde im prestigeträchtigen Wettlauf um den ersten Supersonic-Jet der Welt um rund zwei Monate zuvor gekommen. Das galt auch für die erste Linienverbindung eines Überschalljets, die Aeroflot mit einer Tu-144 am 26. Dezember 1975 eröffnete.

Auf diesem Erstflug wurden jedoch keine Passagiere, sondern sicherheitshalber nur Luftfracht befördert. Erst zwei Jahre später, am 1. November 1977, wagte es Aeroflot, die ersten Fluggäste per Überschall in das kasachische Alma-Ata zu transportieren. Doch nach nur 102 Flügen über einen Zeitraum von sieben Monaten endete dieses Kapitel der Sowjetluftfahrt mit dem letzten Passagierdienst am 1. Juni 1978. Das Unfallrisiko auf Grund der unausgereiften Tu-144 Systeme schien den Verantwortlichen einfach zu groß.

Tupolew, Tu-144, Supersonic Jetliner
Auf dieser Aufnahme sind die Canard-Vorfllügel hinter dem Cockpit gut zu erkennen. Bild: Archiv

Die Tu-144 hatte die Nase vorn

Bereits im Juni 1965 präsentierten die Tupolew-Flugzeugwerke auf der Pariser Luftfahrtmesse in Le Bourget das erste Modell ihres neuen Überschall-Düsenverkehrsflugzeugs. Die Tu-144 war etwas größer als ihr westliches Pendant — die zeitgleich konzipierte BAC / SUD Concorde – unterschied sich aber äußerlich auf den ersten Blick vor allem durch das Layout der Tragflächen und die im Fachjargon Canards genannten Miniflügel hinter dem Cockpit.

Diese Canards verbesserten die Manövrierbarkeit des Flugzeugs bei langsamen Geschwindigkeiten nach dem Start und vor der Landung und waren während des Reisefluges eng an den Rumpf angelegt.

Die Geschichte der Tu-144 ist von zwei Tragödien überschattet: Sie begannen mit dem Absturz des als CCCP-77102 registrierten Prototyps vor den Augen des internationalen Fachpublikums und der Weltpresse am 3. Juni 1973. Während einer Flugvorführung auf der Pariser Luftfahrtmesse in Le Bourget ging die Test-Crew in einen ungeplanten Sturzflug über.

Beim Abfangen zerbrach das Flugzeug in mehrere Teile, wobei nicht nur die sechsköpfige Besatzung, sondern auch acht Bewohner des Dorfes Goussainville am Boden ihr Leben verloren. Bis heute geben sich offizielle französische und russische Stellen gegenseitig die Schuld an diesem Unfall, der je nach Sichtweise, einer französischen Mirage, die den russischen Jet bedrängte, oder dem Leichtsinn der Tu-144 Besatzung geschuldet sein soll.

Die zweite Tragödie betraf am 23. Mai 1978 die CCCP-77111 zugelassene Tu-144D-Serienmaschine. Während eines Testfluges ergossen sich acht Tonnen Flugtreibstoff in die Flügel, was zum Ausfall von drei Triebwerken führte. Bei der eingeleiteten Notlandung auf offenem Feld und dem dadurch verursachten Feuer starben zwei der acht Besatzungsmitglieder.

Tupolew, Tu-144LL, Boeing, McDonnell Douglas, Honeywell, Generał Electric, Pratt&Whitney,
Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. Aber in den neunziger Jahren waren Russland und die USA enge Verbündete im Bereich der Luftfahrtforschung. Bild: NASA

Als die USA und Russland eng kooperierten

Eine unfallfreie Renaissance erfuhr die Tu-144 hingegen, als die amerikanische Weltraumbehörde National Aeronautics and Space Administration (NASA) ein Exemplar zusammen mit Tupolew als Versuchsmaschine nutzte und zwischen 1996 und 1999 auf diversen Forschungsflügen im Rahmen ihres Hochgeschwindigkeits-Forschungsprogramms „High-Speed Research“ (HSR) einsetzte.

Der US-amerikanische Luft- und Raumfahrtkonzern war ein führender Partner in der HSR-Kooperation, der im Auftrag der NASA mit Tupolev die praktische Umsetzung des Projekts vereinbarte. Weitere Beteiligte waren der Flugzeughersteller McDonnell Douglas, die Triebwerkshersteller General Electric und Pratt & Whitney, Honeywell als Spezialist für die Ausrüstung von Flugzeug-Cockpits sowie 70 weitere namhafte amerikanische Unterlieferanten.

Erst das Ende des „Kalten Krieges“ hatte dieses Aufsehen erregende Luftfahrt-Forschungsprogramm der einstigen Erzfeinde, Russland und USA, ermöglicht. Die Grundlagen dafür wurden 1993 zwischen dem US-Vizepräsidenten Al Gore Jr. der Clinton-Administration und dem Ministerpräsidenten der Russischen Föderation Viktor Tschernomyrdin gelegt, die einer Kommission zur technischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit beider Nationen vorstanden.

Zu jener Zeit beschäftigte sich die NASA sowie diverse Unternehmen der US-Luftfahrtbranche vorrangig mit dem „High-Speed Research“ (HSR) Forschungsprogramm, das die Entwicklung neuer Technologien für künftige Supersonic-Passagierjets aus nordamerikanischer Produktion zum Ziel hatte. Das russische Tupolew-Design Büro schlug bereits 1990 die Nutzung einer Tu-144 für das geplante HSR-Flugtestprogramm vor. Doch erst das bilaterale Abkommen auf höchster politischer Ebene ebnete 1993 den Weg zum Austausch zwischen Tupolev und den US-Partnern über die Art der geplanten Forschungsarbeiten und den dafür erforderlichen Umbau des auserkorenen Testflugzeugs.

Tupolew, Tu-144LL, NASA
Die Tu-144LL wurde nicht nur von russischen Testpiloten geflogen, sondern auch von jenen der US-amerikanischen NASA. Bild: NASA

Überschall-Labor TU-144LL

Das Ergebnis dieser amerikanisch-russischen Expertengespräche war das fliegende Überschall-Labor Tu-144LL. Die verwendete Maschine mit dem Kennzeichen RA-77114 wurde als eines der letzten Serienflugzeuge der Tu-144D Baureiche im Jahr 1981 fertiggestellt und hatte zum Zeitpunkt seiner Umrüstung zum Forschungsflugzeug ganze 82 Stunden und 40 Minuten im Flug zurückgelegt.

Ein Highlight der technischen Anpassung der Serienmaschine war der Austausch ihrer ursprünglichen vier Koliesov-Triebwerke mit wesentlich zuverlässigeren und leistungsstärkeren Kuznetsov NK-321 Motoren des Tu-160 Bombers. Zwischen dem Erstflug am 29. November 1996 und seinem letzten Einsatz im Jahr 1999 startete das jetzt Tu-144LL genannte Forschungslabor von seiner Heimatbasis Moskau-Zhukovsky aus zu insgesamt 27 Flügen, die unter der Leitung des NASA Langley Research Centers in Hampton, Virginia, stattfanden.

Tupolew, Tu-144LL
Die Russisch-Amerikanische Tu-144LL auf dem Weg zur Vorbereitung eines neuen Forschungseinsatzes. Bild: NASA

Enge Wissenschaftskooperation zwischen den USA und Russland

Um die Vielzahl gewonnener Daten analysieren zu können wurde der Überschalljet mit einem digitalen Netzwerk, Messstationen in der Kabine und Sensoren an der Flugzeugaußenhaut, ausgerüstet. Sie konnten rund 800 Parameter während eines Fluges erfassen. Die über Thermoelemente, Drucksensoren, Mikrophone und Sonden zur Ermittlung des Luftwiderstandes an der Außenhaut gewonnen Informationen umfassten dabei nicht nur die von der NASA eingebrachten Experimente, sondern auch die allgemeinen aerodynamischen Daten des Tu-144 Trägerflugzeugs, das neben russischen Testpiloten auch von US-amerikanischen Piloten der NASA geflogen wurde.

Tu-144LL, NASA-Pilot
TU-144LL-Testpilot C. Gordon Fullerton der NASA im Cockpit des russischen Überschalljets. Bild: NASA

Aus 50 vom amerikanischen Expertenteam vorgeschlagenen Experimenten wählten die Verantwortlichen zunächst sechs Flug- und zwei Bodenexperimente für die erste Flugtestphase aus. Die Flugexperimente umfassten beispielsweise Studien über die Beschaffenheit der Flugzeugaußenhaut, die Flugzeugstruktur und Triebwerkstemperaturen, Verlauf der Grenzschicht an Rumpf und Tragflächen, das Bodeneffektverhalten der Tragflächen, Lärm außerhalb und innerhalb der Kabine, Flugverhalten in diversen Flugprofilen und die Ausdehnung der Flugzeugstruktur während eines Überschallfluges in großen Höhen.

Zwei Bodenexperimente beschäftigten sich zudem noch vor dem ersten Flugeinsatz mit dem Design der Triebwerks-Lufteinläufe. Im Fokus der Ingenieure standen insbesondere das Verhalten des Luftstroms und dessen Effekt auf die Triebwerksleistung bei auftretenden Überschall-Druckwellen.

Roll-Out, Tu-144LL, März 1996
Roll-Out-Feierlichkeiten der Tu-144LL im März 1996 in Moskau-Zhukovsky. Bild: NASA

Tu-144LL als Ost-West-Projekt

In Phase Zwei der Flugtests wurden die sechs Experimente der ersten Phase fortgeführt und weitere Instrumente zur Sicherung der gewonnenen Daten von Tupolev-Technikern im Flugzeug installiert. Zudem stand die Auswirkung der Biegung des Flügels auf das Flugverhalten im Überschallbereich im Fokus der NASA-Ingenieure.

Zusätzliche Sensoren und Druckmesswandler brachten noch genauere Erkenntnisse über den Luftdruck an der Flugzeugnase im Unter- und Überschallbereich sowie bei verschiedenen Flugmanövern. Alle gewonnenen Daten plante die US-Luftfahrtindustrie in einen neuen Supersonic-Passagierjet der nächsten Generation mit rund 300 Sitzen einfließen zu lassen. Dieses Super Sonic Transport (SST)-Überschallflugzeug sollte in einer Reiseflughöhe von 65.000 Fuß, entsprechend 35.000 Metern, mit Mach 2 über eine Strecke von über 9    000 Kilometern fliegen können. Und dies zu Kosten, die lediglich einen zwanzigprozentigen Supersonic-Aufschlag im Vergleich zu konventionellen Jets erforderlich gemacht hätten.

Tatsächlich arbeitet das private US-amerikanische Unternehmen Boom Supersonic aktuell an einem wesentlich kleineren Überschalljet für den zivilen und militärischen Luftverkehr namens Overture und dessen Symphonie-Antrieb.

Tupolew, Tu-144LL
Die Tu-144 sah nur auf dem ersten Blick der britisch-französischen Concorde ähnlich. Im Detail unterschieden sich jedoch beide, bislang einzigen (fliegenden) Überschall-Passagierjets. Bild: NASA

Projekt mit Vorbildcharakter

Das Tu-144LL Programm war so erfolgreich, dass es im März 1998 von der leitenden US-russischen Kommission als „Vorbild für gemeinschaftliche Projekte unter Beteiligung der Industrie im Bereich der Entwicklung fortschrittlicher Technologien“ gewürdigt wurde. Doch die Freude war nur von kurzer Dauer. Bereits 1999 kündigten die amerikanischen Partner die Zusammenarbeit wieder auf – und die Tu-144LL kehrte in ihren Dornröschenschlaf in Zhukovsky zurück.

Grund für die Projekteinstellung war die in den USA gewachsene Erkenntnis, dass ein wirtschaftlich durchführbares SST-Programm nicht in absehbarer Zukunft realisierbar ist, und dass sich eine weitere Beteiligung der US-Luftfahrtindustrie am Tu-144LL Programm daher nicht mehr rechnet.

Von den siebzehn gebauten Tu-144 sind vier Maschinen in russischen Luftfahrtmuseen, ein Exemplar im Technik Museum in Sinsheim und zwei Flugzeuge auf dem Tupolev-Werksflugplatz in Moskau-Zhukovsky erhalten geblieben. Darunter die Tu-144LL RA-77114 sowie die Tu-144D mit dem Kennzeichen RA-77115.

Technische Daten Tupolew Tu-144

Hersteller: Tupolew, Moskau, UdSSR

Erstflug: 31.12.1968

Gebaute Exemplare: 17

Spannweite: 28,80 m

Länge: 65,70 m

Höhe: 12,55 m

Motoren: 4 x Kolesov RD-36-51A Turbojet

Reisegeschwindigkeit: max. 2.120 km/h (Mach 2)

Reichweite: ca. 6.200 km

Besatzung: 3-4 x Flightdeck

(technische Daten = Tu-144D)