Der sowjetische Jet war noch vor der französisch-britischen Concorde das erste Überschallverkehrsflugzeug – sowohl beim Erstflug am 31. Dezember 1968, als auch beim Durchbrechen der „Schallmauer“ und Erreichen von Mach 2. Sie war eine gewaltige technologische Errungenschaft, vor allem ein propagandistischer Erfolg – und ein Milliardengrab

Die sechziger Jahre waren nicht nur die Zeit, in der die Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges trotz einer kurzen Tauwetterphase politisch das Weltgeschehen dominierte. Es waren auch Jahre des technologischen Wettlaufs, nachdem die Sowjetunion mit Juri Gagarin den ersten Menschen ins Weltall geschickt hatte und die USA sich aufmachten, zum Mond zu fliegen. Im Osten wie im Westen schien in diesen Jahren alles möglich zu sein – von senkrecht startenden Verkehrsflugzeugen bis hin zu atomar betriebenen Raumschiffen.

In der Sowjetunion waren nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg gewaltige Aufbauleistungen zu vollbringen, die in jener Zeit bereits mit zweistelligen Wachstumsraten belohnt wurden und Spielraum für Herausforderungen ließen. Es war bekannt, dass ein französisch-britisches Team nach mehrjährigen Vorbereitungen seit 1962 ernsthaft an dem Überschall-Verkehrsflugzeug Concorde arbeitete und damit auch den Ehrgeiz der US-Wirtschaft geweckt hatte.

Wettbewerb im Kalten Krieg

Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow erteilte daher 1963 dem Flugzeugkonstrukteur Andrei Tupolew den Auftrag, ein überschallschnelles Verkehrsflugzeug zu entwickeln – und in die Luft zu bringen. 
Der Wettkampf wurde zum Teil auch mit unlauteren Mitteln geführt, und Ostblock Geheimdienste waren damals auch mit Industriespionage befasst. Doch der Großteil der Entwicklungen um das Tu-144 genannte Projekt erfolgte völlig eigenständig – das Flugzeug hätte sicher auch ohne illegal erlangte Erkenntnisse gebaut werden können. Vielleicht nicht ganz so schnell.

Die Aufnahme seitlich von hinten macht einen Blick auf die Triebwerke möglich. Die Motoren sind nah am Rumpf montiert (Foto: Dmitry Terekhov)

Dass das Design auf den ersten Blick der Concorde so stark ähnelte, verdankte es den Anforderungen der Physik, speziell der Aerodynamik, wie das auch bei anderen Flugzeugen der Fall ist. Es gibt aber auch große Unterschiede: Die Triebwerke sind dichter am Rumpf positioniert, die Tragflügelgeometrie ist weniger komplex, und die Tupolew kommt nur dank Canardflügeln auf die erforderliche Landegeschwindigkeit.

Triumph über den Westen

Im Bereich der Aerodynamik setzten die Entwickler sogar zwei verkleinerte Prototypen auf Basis der MiG-21 ein, mit der Tupolew die Leistungsfähigkeit des Tragflächenentwurfs vor allem in Landekonfiguration testete. Daneben entwickelten die Ingenieure neue Materialien, speziell Metalle, deren Einsatz wegen der erforderlichen Temperaturbeständigkeit besonders wichtig war. Die Entwicklungen kamen später auch anderen Entwicklungen zugute.

Bekannt wurde das Projekt im Westen spätestens bei seiner Vorstellung auf dem Luftfahrtsalon von Le Bourget 1965. Beide Seiten kämpften nun verbissen um den ersten Platz im Passagier-Überschallflug – die Sowjets mit der Vorgabe, Ende 1968 erfolgreich zu sein. 
Als schließlich am letzten Tag des Jahres 1968 mit der Tupolew das erste Überschallverkehrsflugzeug der Geschichte seinen rund halbstündigen Jungfernflug absolvierte, war dies zwar nicht mit dem Sputnik-Schock elf Jahre zuvor zu vergleichen.

Vorstellung beim Luftfahrtsalon von Le Bourget

Dennoch machte die Sowjetunion aus ihrem Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Westen keinen Hehl und schlachtete den Erfolg entsprechend propagandistisch aus. 
Doch die Erprobung machte trotz des Erfolgs starke Defizite deutlich, und die Konstruktion musste so stark modifiziert werden, dass das zweite Flugzeug samt Tragflügel und Triebwerksposition fast einer Neukonstruktion entsprach.
Knapp fünf Jahre später, die Concorde flog längs auch schon mit Mach 2, erlebte das Programm einen herben Rückschlag, als vor den Augen der Weltöffentlichkeit das Flaggschiff des sowjetischen Flugzeugbaus während einer Vorführung in Le Bourget in der Luft auseinanderbrach.

Das Cockpit
der TU-144 (Foto: Artyom Anikeev)

Sechs Personen an Bord und acht weitere am Boden kamen ums Leben. 
Zu den möglichen Ursachen gibt es verschiedenen Hypothesen, aber kein öffentlich bekanntes Abschlussurteil: So soll versucht worden sein, abrupt einer plötzlich aufgetauchten französischen Mirage auszuweichen – die Besatzung könnte es mit den Flugmanöveren übertrieben und dadurch die Struktur überlastet haben, um eine besonders spektakuläre Show zu liefern. Eine andere Variante besagt, dass der Copilot seine private Kamera verloren haben soll, die dann die Steuerung blockiert hat. In jedem Fall haben sowjetische Propaganda und das Selbstwertgefühl des sowjetischen Flugzeugbaus unter dieser negativen Publicity enorm gelitten.

Kommerzielle Flüge

Am 26. Dezember 1975 und damit sieben Jahre nach dem Erstflug führte eine TU-144 ihren ersten kommerziellen Flug durch – ohne Passagiere und mit Post an Bord. Keinen Monat später erhoben sich je eine Concorde von British Airways und Air France zu den ersten Linienflügen mit vollen Passagierkabinen.
 Die TU-144, im Westen ob der Ähnlichkeit als „Concordski“ verspottet, hatte unter anderem Probleme mit dem Kraftstoffsystem, sodass erst im November 1977 zweistündige Passagierflüge nach Alma-Ata aufgenommen werden konnten – rechtzeitig zum 60. Jahrestag der Oktoberrevolution.

Doch das in 16 Exemplaren gebaute Flugzeug blieb unzuverlässig und unwirtschaftlich – der Betrieb wurde nach nur gut 100 Flügen mit nicht einmal 3500 beförderten Passagieren eingestellt, während die Concorde noch viele Jahre erfolgreich fliegen sollte. 
Zwar verfügte die Sowjetunion über eine riesige Landmasse, aber Geschwindigkeit war in der Planwirtschaft weniger das Problem als in der von Konkurrenz geprägten westlichen Wirtschaft.

Der Überschalljet blieb unwirtschaftlich

Der schnelle Transport von Post und Fracht konnte nicht über die latente Unwirtschaftlichkeit hinwegtäuschen. Als ziviles Projekt war die TU-144 ein teures Prestigeobjekt, das den in sie gesetzten Ansprüchen nie gerecht wurde. Sie gab die Kulisse in populären Filmen ab, sie wurde auf Briefmarken abgedruckt. Doch der Sowjetmensch erkannte stets rasch die Diskrepanzen zwischen verordnetem Fortschrittsglauben und der alltäglichen Realität, wie folgende Anekdote zeigt: 
„Die sowjetische Technologie ist die beste der Welt,“ prahlte ein Moskauer in einem Witz der siebziger Jahre gegenüber seiner Frau.

Auch im Langsamflug
 wurden die Canards
 hinter dem Cockpit ausgefahren (Foto: Getty Images)

„Wir haben Satelliten, um Fernsehen sogar aus Wladiwostok zu übertragen, und ein Überschallflugzeug, das seine Passagiere in wenigen Stunden durchs ganze Land trägt.“ Seine eher praktisch veranlagte Frau weiß sofort, wie daraus Kapital zu schlagen ist: „Wundervoll – wenn wir im Fernsehen sehen, dass es in Wladiwostok Eier zu kaufen gibt, kann ich das Flugzeug dorthin nehmen und ein paar kaufen!“ Erwähnt werden muss jedoch, dass viele Entwicklungen um die TU-144 auch militärisch genutzt wurden.

Militärischer Nutzen der TU-144

So gab es Projekte als Bomber und Langstreckenaufklärer auf Basis des zivilen Modells, die schließlich auf Umwegen im Atombomber TU-160 mit Schwenkflügeln mündeten. Dieser misst sich bis heute mit der amerikanischen Rockwell B-1. Außerdem kam ab Ende 1996 für ein Jahr ein stark modernisiertes Exemplar als RA-77114 mit neuen Triebwerken als Forschungsflugzeug im Auftrag der NASA zum Einsatz. Ein weiteres Flugzeug fand als einziges dauerhaft den Weg ins Ausland und wird zusammen mit seinem ewigen Wettbewerber aus dem Westen, der Concorde, im Technik Museum Sinsheim ausgestellt.

Text: Robert Kluge, AERO INTERNATIONAL 1/2019