Luftfahrtexperten und Fachjournalisten tragen eine besondere Verantwortung, wenn sie gleich nach einem Flugunfall für ein „Laien“-Publikum interviewt werden. AERO-INTERNATIONAL-Autor Heinrich Großbongardt kennt das und berichtet von seinem Umgang damit.

„Sie wissen bestimmt schon, warum ich anrufe“, sagte die Redakteurin vom TV-Sender. Nein, wusste ich nicht. Ich habe ja keine Absturzalarmklingel auf dem Handy. Es war der 12. Juni 2025, 11.15 Uhr. Fast genau eine Stunde zuvor war eine Boeing 787 von Air India mit der Flugnummer AI 171 unmittelbar nach dem Start in Ahmedabad abgestürzt und in einem Feuerball zerborsten. „Wir hätten Sie gern um 11.30 Uhr in der Sendung und schicken Ihnen gleich einen Link zu dem Video, das den Absturz zeigt.“

Eine Viertelstunde ist nicht viel Zeit, um wenigstens ein paar solide Informationen zu recherchieren. Die wenigen zuverlässigen Websites, auf die ich in solchen Fällen zurückgreife, waren zusammengebrochen unter der Last von hunderttausenden An- fragen. Indien hat 1,4 Milliarden Einwohner. Dafür kann man keinen Server auslegen.

Flugunfälle sind das Ergebnis komplexer Kausalketten

Aber anderes geht natürlich: Wetter, aktuelle Informationen über den Flughafen, die Topografie, die Fluggesellschaft und natürlich über das Flugzeug selbst. Manches weiß man natürlich, aber gerade in einer solchen Situation ist es wichtig, nicht irgendwas daherzubrabbeln, was man zu wissen glaubt, sondern Kernfakten nochmal zu überprüfen. Während schon die nächsten TV-Redaktionen anrufen und alle dasselbe wollen: ein Live-Interview in der nächsten Sendung. Jedes Interview, an diesem Tage waren es 17, dicht hintereinander getaktet, verlangt volle Konzentration. Man weiß zumeist nicht, welche Fragen auf einen zukommen. Aber am Anfang steht im Kern dieselbe: Kennen Sie schon die Ursache und können Sie unseren Zuschauern erklären, wie es dazu kommen konnte? Natürlich nicht. Wie auch?

Unfälle sind das Ergebnis komplexer Kausalketten. Die Faktoren in ihrem Zusammenwirken aufzuklären, ist das Ziel der Unfalluntersuchung, eines mühsamen Puzzlespiels, das manchmal Jahre dauern kann. Wenn Journalisten trotzdem fragen, dann machen sie ihren Job und stellen die nur allzu menschliche Frage, die sich auch die Zuschauer stellen: Wie konnte das passieren?

Gerade nach einem so schweren Unglück wie dem Absturz des Dreamliners von Air India ist das Informationsvakuum riesig. Wenn es nicht mit sachkundigen Informationen gefüllt wird, dann wuchern unvermeidlich wilde Spekulationen und absurde Theorien aus den zahllosen Social Media-Kanälen. Das Vertrauen der Passagiere in die Sicherheit des Luftverkehrs allgemein würde so untergraben. Dem Hersteller und der betroffenen Fluggesellschaft ist es aber strikt untersagt, in dieser Phase der Untersuchung Stellung zu beziehen. Sie sind auf diejenigen angewiesen, die als unabhängige Experten in die Bresche springen.

Der Flugdaten- schreiber im Heck der abgestürzten Air-India-Boeing wurde schnell gefunden.
Der Flugdaten- schreiber im Heck der abgestürzten Air-India-Boeing wurde schnell gefunden. Bild: picture alliance/Sipa USA/Hindustan Times

Gleichzeitiger Ausfall von zwei Triebwerken sehr unwahrscheinlich

Zumeist geht es in den Interviews im ersten Schritt darum, zu erklären, was auf ersten Fotos oder Videos zu sehen ist, welche Informationen man daraus womöglich gewinnen kann und welche Faktoren man mit einiger Wahrscheinlichkeit ausschließen kann.

Beispiel Air India: Der gleichzeitige Ausfall von zwei Triebwerken ist extrem unwahrscheinlich, moderne Motoren versagen weniger als einmal pro eine Million Flugstunden den Dienst. Und sie haben so viel Schub, dass beim plötzlichen Ausfall eines Motors der andere immer noch in der Lage ist, das Flugzeug sicher in die Luft zu bringen. Könnte trotzdem der Ausfall eines Triebwerks zu diesem Unglück beigetragen haben? Wohl kaum, denn dann wäre das Seitenruder ausgeschlagen, um das Giermoment durch den asymmetrischen Schub auszugleichen. Das kann man sagen, ohne zu spekulieren. Ebenso, dass das Wetter mutmaßlich keine Rolle gespielt hat. Aber die Linie zwischen qualifizierter Einordnung von Informationen und Spekulation ist haarfein. Deshalb immer wieder der Hinweis auf den Flight Data Recorder, der über 1000 Parameter aufzeichnet und zusammen mit dem Cockpit Voice Recorder den Hergang des Absturzes nachvollziehbar machen kann.

Wichtig finde ich die Information, dass die Untersuchung jedes Unfalls nach international festgelegten Regeln abläuft, und dass sie immer nur das eine Ziel hat: möglichst die gesamte Kausalkette aufzuklären, damit alle im System Luftfahrt daraus lernen können. Nur deshalb hat die heutige Verkehrsfliegerei ihren hohen Sicherheitsstandard von einem tödlichen Unfall auf 40 Millionen Flüge erreichen können. Ja, die Sicherheit in der Luftfahrt ist mit Blut geschrieben.

Fernsehsender in Kontakt mit Community über Social Media

Viele Fernsehsender stehen heute über Social Media im Kontakt mit ihren Zuschauern. Zwischendurch schalten sie Interviews ein, um mich die am häufigsten diskutierten Fragen aus Expertensicht kommentieren zu lassen. Das ist eine tolle Einrichtung, schafft sie doch die Möglichkeit, viele „Theorien“ qualifiziert aus den Welt zu schaffen, bevor sie online ein Eigenleben entwickeln können: Das ist doch schon wieder eine Boeing. Ist das Unternehmen jetzt am Ende? Nein, es gibt derzeit keinen Hinweis, dass ein grundsätzlicher Konstruktionsfehler an der 787 eine Rolle gespielt haben könnte.

Zwischendurch gilt es immer wieder, die neu auftauchenden Nachrichtenschnipsel zu überprüfen und auf ihre Glaubwürdigkeit zu bewerten. Skepsis ist angebracht. Zum Glück habe ich ein Netzwerk von Ingenieuren und Piloten, auf deren Fachwissen ich zurückgreifen kann. Manche hilfreiche Information kommt ungefragt, denn uns verbindet dieselbe Motivation: Luftfahrt ist eine verdammt komplexe Angelegenheit. Deshalb ist es an Tagen wie diesem besonders wichtig, dass Menschen ihre Fragen beantwortet bekommen. Damit sie auch beim nächsten Mal guten Gewissens in ein Flugzeug einsteigen.