Passagierjets hilft die Schubumkehr der Triebwerke beim Bremsen am Boden. Aktiviert sich die Funktion im Flug, kann das katastrophale Folgen haben – wie 1991 beim Flug der Lauda Air.

Andreas Nikolaus Lauda – der 2019 verstorbene Rennfahrer und Aviatiker, genannt „Niki“, war es gewohnt, sich stets durchzusetzen. Auch eine gewisse Eitelkeit war der etwas kauzigen Legende aus Österreich nicht fremd: Was Lauda schuf, trug seinen Namen. So auch die Fluggesellschaft Lauda Air, die er 1979 gründete. Schnell wurde sie eine ernsthafte Konkurrenz zu Austrian Airlines. Allen Widersachern zum Trotz, wurde Lauda Air zum Erfolg. Die Airline behauptete sich als privater Nischenanbieter in einem Wachstumsmarkt, der damals noch von staatlichen Monopolen geprägt war.

Neue Boeing 767-300ER bringen Wachstum

Persönliches und finanzielles Risiko ging Lauda 1987 ein, als er zwei nagelneue Boeing 767-300ER bestellte, mit denen seine Airline Ziele in der Karibik, nach Fernost und bis Australien bedienen konnte. Die zweistrahligen 767-300ER waren mit Extratanks ausgestattet, die eine Reichweite bis 11 000 Kilometer ermöglichten. Angetrieben von zwei PW4000-Turbinen des Herstellers Pratt & Whitney war die 767-300ER zu der Zeit das effizienteste und modernste Langstreckenflugzeug der Welt. Mit dem Namen Lauda verband man nicht nur in Österreich Innovation, Exklusivität und Erfolg. Bis zu dem Tag, der alles veränderte.

Am Sonntag, dem 26. Mai 1991, hob Lauda Air Flug NG 004 wie gewohnt vom damals noch aktiven Stadtflughafen Kai Tak in Hong Kong ab, um die Rückreise nach Wien anzutreten. Die Boeing 767 mit dem Taufnamen „Mozart“ und dem Kennzeichen OE-LAV war im Oktober 1989 an Lauda Air ausgeliefert worden. Auf dem Rückweg nach Europa war ein regulärer Zwischenstopp in Bangkok vorgesehen.

Die Problemreise beginnt: Lauda Air Flug NG 004 hebt ab

Nach knapp 2,5 Stunden Flugzeit setzte Flug NG 004 um 21.22 Uhr in Bangkok auf, um weitere Passagiere aufzunehmen. Dieser Flug verlief ohne Probleme. Für den zirka zehnstündigen Rückflug nach Wien wurde OE-LAV betankt, eine neue Besatzung kam an Bord und weitere 88 Passagiere stiegen zu. Nun waren insgesamt 213 Passagiere an Bord. Hinzu kamen mit Piloten und Kabinencrew weitere zehn Personen.

Lauda Air Flug NG 004: Niki Lauda (mit roter Kappe) reiste selbst an den Absturzort im unwegsamen Gelände 160 Kilometer nördlich von Bangkok.

Gegen 22.35 Uhr schlossen sich die Türen der „Mozart“. Kapitän des Flugs war der US-amerikanische Staatsbürger Thomas Welch (48) mit 11 000 Flugstunden Erfahrung. Copilot Josef Thurner (41) war Österreicher. Um 22.45 Uhr erhielten die Piloten die Rollfreigabe zur Startbahn 21L. 17 Minuten später erhob sich Lauda Air Flug NG 004 in den dunklen Nachthimmel. An Bord herrschte gelassene Routine. Für den nächsten Morgen um 6.00 Uhr Ortszeit war die Landung in Wien vorgesehen. Doch dazu kam es nicht.

Wie war die Kommunikation der Piloten?

Die „Mozart“ durchstieg 11 000 Fuß, als fünf Minuten und 45 Sekunden nach dem Abheben die Routinestimmung beendet war. Auf den Monitoren vor den Piloten erschien die Warnmeldung „L REV ISLN VLV“. Das Kürzel steht für „Left Reverser Isolation Valve“, also für ein Ventil an der Schubumkehrvorrichtung des linken Triebwerks.

Diese Vorrichtung ist eigentlich nur für den Betrieb am Boden gedacht. Piloten können sie nach dem Aufsetzen aktivieren. Dann öffnen sich Klappen seitlich am Triebwerk, die dessen Luftstrom nach vorn umlenken. So wird ein Bremseffekt zusätzlich zu den Radbremsen erzielt, der umso stärker wirkt, je mehr die Piloten die Triebwerkleistung im Ausrollen wieder erhöhen.

CPT: „[ ]…die Meldung geht an und wieder aus.“

CPT: “Was sagt das Quick Reference Book, was steht darüber drin?“

Copilot Thurner hatte das Betriebshandbuch gezückt und las die passende Stelle vor:

COP: „… zusätzliche Systemfehler können ein Ausfahren im Flug verursachen. Nach der Landung ist eine normale Funktion zu erwarten.“
CPT: „Okay.“

Während die OE-LAV an Reiseflughöhe gewann, herrschte im Cockpit eine gewisse Ratlosigkeit, wie man mit der Warnung um- gehen sollte. Copilot Thurner schlug vor, das Kontrollcenter der Lauda Air in Wien zu kontaktieren. Eine gewisse Beunruhigung lag in seinen Worten, doch der erfahrene Kapitän beschwichtigte:

CPT: „Ja, du kannst gerne nachfragen. Es ist womöglich nur Feuchtigkeit oder sowas, weil es geht an und aus.“
COP: „Ja.“
CPT: „Aber, weißt du, es ist, das heißt nicht wirklich etwas, es ist nur so ein in- formelles Ding.“

Welch wiederholte seine Vermutung, wonach Feuchtigkeit den Kontakt eines Sensors im linken Triebwerk beeinträchtigt haben könnte. Eine Konsultierung der technischen Abteilung der Airline unterblieb. Thurner beschloss, das Thema abzuhaken, da ansonsten nichts ungewöhnlich zu sein schien, und begann, den weiteren Streckenverlauf zu kalkulieren.

Dieses Foto der Unglücksmaschine entstand 1989 in Wien.

Die Boeing nahm Fahrt auf, als sie in dünnere Luftschichten vordrang. Um 23.17 Uhr passierte der Jet mit 80 Prozent der Schallgeschwindigkeit eine Höhe von 7500 Metern, als Thurner fast ungläubig die Meldung vorlas, die auf dem Monitor aufleuchtete: „Schubumkehr ausgefahren.“ Als hätte die Boeing 767 eine riesige Pranke gepackt, gab es im selben Augenblick einen markerschütternden Ruck. Der Schubhebel des linken Triebwerks fuhr auf Leerlaufstellung zurück. Schlagartig kippte die „Mozart“ nach links, der Autopilot schaltete sich ab. Die Ereignisse überschlugen sich. Es ertönten Warnungen über Warnungen, die Kräfte, die auf die Maschine wirkten, waren kaum vorstellbar. Der Auftrieb am Heckleitwerk brach zusammen. Flug 004 senkte sich trudelnd in die dunkle Nacht. Was sich in diesen dramatischen Momenten in der Passagierkabine abgespielt haben muss, lässt sich kaum erahnen. Die Boeing war außer Kontrolle und verlor rapide an Höhe. Der kla- ckernde Ton der Geschwindigkeitswarnung war zu hören. Keine sieben Sekunden später rissen die aerodynamischen Kräfte das Flugzeug auseinander, das in einem Feuerball zerbrach und zu Boden fiel.

Flugunglück im Dschungelgebiet

Die Crew einer im Sinkflug auf Bangkok befindlichen Maschine der Delta Air Lines, sah, wie ein orangefarbener Feuerschein schnell dem Boden entgegenfiel und informierte die Fluglotsen über die Beobachtung. Nach nur 15 Minuten Flugzeit schlugen die Trümmer der „Mozart“ etwa 160 Kilometer nördlich der thailändischen Hauptstadt in einem bergigen Dschungelgebiet auf, 50 Kilometer nordwestlich der thailändischen Kleinstadt Suphan Buri. Viele Einheimische sahen einen „unheimlichen Kometen“, der in ihrer Nähe niederging. Alle verfügbaren Rettungskräfte wurden herbeigerufen, doch schnell wurde klar, dass hier niemandem mehr zu helfen war. Sowohl für Thailand als auch für Österreich hatte sich das bei weitem schlimmste Flugzeugunglück der Geschichte ereignet.

Niki Lauda reist zum Unfallort

Österreich und die Lauda Air wurden durch die Nachricht vom Absturz der „Mozart“ in Schockstarre versetzt. Die Lauda Air war wie eine große Familie. in der jeder jeden irgendwie kannte. Dass in Thailand immer noch bittere Armut vor allem unter der Landbevölkerung herrschte, machte sich in den Folgetagen nach der Tragödie bemerkbar: Viele Einheimische plünderten an der Absturzstelle die Habseligkeiten der Passagiere, die im Gelände verstreut lagen. Das geschah, obwohl das Militär eigens bewaffnete Wachen abgestellt hatte, um genau das zu verhindern.


Lauda Air bediente die Unglücksstrecke weiter – im Bild eine 767 am Hong Konger Flughafen Kai Tak.

Neben den Flugunfallexperten reiste auch Niki Lauda an den Unfallort nach Suphan Buri, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Angesichts der Toten, die sich seinem Flugzeug anvertraut hatten, gab er sich selten betroffen und grüblerisch. Sollte dieses Unglück etwas mit Lauda zu tun haben, wolle er aus der Fliegerei aussteigen, sagte er. Diese Worte sollten ihn noch einholen. Unterdessen lief die internationale Untersuchung an. Zwar fand man sowohl den Cockpit-Stimmenrekorder und Flugdatenschreiber. Doch letzterer war aufgrund intensiver Feuereinwirkung unbrauchbar. Sofort kursierten Gerüchte, warum eine hochmoderne Maschine „einfach so“ vom Himmel fallen konnte. Alle tappten im Ungewissen, bis man ein großes, verbogenes Metallknäuel fand, halb im Erdreich des Dschungels eingegraben. Es handelte sich um eben jenes linke Triebwerk vom Typ PW4000, an dem die Schubumkehrklappen noch ausgefahren waren.

Techniker sind verwundert: Was ist beim Lauda Air Flug NG 004 passiert?

Die Experten wurden hellhörig. Ein Ausfahren der Schubumkehr in der Luft war nur bei wenigen Maschinen erlaubt, zum Beispiel der Iljushin IL-62 oder der Douglas DC-8. An einer Boeing 767 dürfte dies eigentlich technisch unmöglich sein, da mehrere Sperrvorrichtungen dies verhindern sollen. Hatten alle zusammen versagt? Nach acht Monaten legte die thailändische Untersuchungskommission ihren Schlussbericht vor. Auch wenn sich die Vermutung nicht durch den Flugdatenschreiber bestätigen ließ, kamen die Untersucher zu dem Schluss, dass sich die Schubumkehr im linken Triebwerk im Steigflug aktiviert hatte und so den Verlust der Kontrolle über das Flugzeug verursacht hatte.

Ernüchternd musste man jedoch einräumen, dass aufgrund fehlender Informationen des Flugdatenschreibers der Grund für diese Fehlfunktion nicht endgültig geklärt werden konnte. Diese mangelnde Ursachenermittlung war eine Hiobsbotschaft für den Hersteller Boeing und den Triebwerkshersteller Pratt & Whitney. Das PW4000 ist Standardtriebwerk der Muster A300/A310, B757, B767, B747-400 und MD-11. Ein weiterer Absturz musste dringend verhindert werden.

Der Flugdatenschreiber war durch Brandeinwirkung zerstört

Die US-Flugaufsichtsbehörde FAA entschloss sich zu einer Sofortmaßnahme: An sämtlichen Boeing 767 mit Triebwerken der 4000er-Serie wurde eine mechanische Blockierung nachgerüstet. Sie verhinderte die Nutzung der Schubumkehr, bis Boeing die Aktivierungslogik und das Verriegelungssystem der Schubumkehr überarbeitet hatte.

Zulassung nicht streng genug Bis zu dem Lauda-Air-Unfall gingen Behörden und Hersteller davon aus, dass eine 767 durchaus ein Aktivieren der Schubumkehr im Flug aushalten kann. Doch es zeigte sich, dass die Zertifizierungsanforderungen vergleichsweise harmlos waren: Zwar waren mehrere Testflüge erfolgreich verlaufen, bei denen die Schubumkehr einseitig aktiviert worden war, allerdings wurden sämtliche Tests in geringeren Flughöhen und bei maximal 500 km/h durchgeführt. Die „Mozart“ jedoch flog mit 900 km/h. Bei diesem Szenario gab es für die Piloten keine Chance, den Jet durch Steuereingaben zu retten.
Im August 1991 gab Boeing dann eine Notfallanweisung heraus, eine sogenannte Emergency Airworthiness Directive.

Umfangreiche Checks als Folge

Sie forderte alle Betreiber des betroffenen Schubumkehrsystems in den Triebwerken ihrer Flotten auf, umgehende Checks durchzuführen. 1600 Maschinen waren betroffen. Boeing und die FAA identifizierten die Schwachstelle bei einem unzuverlässigen Ventil, das bei bestimmten Bedingungen von selbst die Schubumkehr auslösen kann. Dieses Ventil wurde vom Herbst 1991 an bei allen in Frage kommenden Maschinen welt- weit getauscht. Ein Fall wie bei Flug NG 004 kam seitdem nicht mehr vor. Doch ein Makel fiel auch auf die Wartung von Lauda Air. Der Fehlerspeicher des Computers am linken Triebwerk deckte auf, dass OE-LAV im Monat vor der Katastrophe nicht weniger als 61 Fehlermeldungen bei der Schubumkehr registriert hatte.

Erfolglos waren Hydraulikelemente und ein Kontrollmodul ausgetauscht worden. Die Überprüfung der Kabel zwischen Triebwerk und Cockpit war als nächstes geplant. Die Fehlermeldungen führten allerdings nicht dazu, dass die Maschine aus dem Flugbetrieb genommen wurde. So war zwar ein Konstruktionsmangel die Hauptursache des Unglücks, jedoch wurde auch Lauda Air eine Mitschuld zugewiesen. Niki Lauda sagte einmal, dass die Tage nach dem Unglück die schmerzhaftesten in sei- nem Leben gewesen seien, noch schmerzhafter als die Verbrennungen, die er bei seinem Formel 1 Unfall auf dem Nürburgring erlitten hatte. Seine Aktivitäten in der Luftfahrt behielt Lauda aber bei.

Text: Jan-Arwed Richter