1994 brachte Eisansatz eine Passagiermaschine trotz funktionierender Enteisungssysteme zum Absturz. Die Unfalluntersuchung deckte bislang unbekannte Gefahren auf. Neue Zulassungsvorschriften folgten.

Es passierte an Halloween. Das Wetter war wie gemacht für Grusel an diesem letzten Tag im Oktober des Jahres 1994. Die ersten Vorboten des kommenden Winters hatten den Mittleren Westen der USA erreicht. Der Flugunfall, der sich an diesem Tag ereignete, führte zu einem ganz neuen Verständnis der Gefahren von Vereisung an Flugzeugen, änderte die Art, wie Meteorologen Eis vorhersagen und bewirkte 20 Jahre nach dem Unfall gravierende Änderungen bei den Vorschriften für die Zulassung von Enteisungssystemen.

Indianapolis als Start einer nicht endenden Reise

Der internationale Flughafen von Indianapolis ist umhüllt von einer dichten Wolkendecke, als die ATR 72, die für den Flug American Eagle AA 4184 vorgesehen ist, aus ihrer Parkposition abdockt. Die zweimotorige Turboprop ist die verlängerte Variante ihrer kleinen Schwester ATR 42. Seit ihrem Erstflug 1984 wird das Muster des französisch-italienischen Flugzeugherstellers ATR (Avion de Transport Régional) ebenso wie die 1988 eingeführte Variante ATR 72 auf Routen genutzt, wo ein größerer Jet unwirtschaftlich wäre.

 

Eine baugleiche ATR 72-200 der Simmons Airlines, die für American Eagle Zubringerflüge durchgeführt hat. Bild: Werner Fischdiek

Die Flugzeit des Zubringers zum Drehreuz Chicago O’Hare ist mit nur 30 Minuten berechnet. Doch an diesem Tag erschwert das Wetter einen zügigen Ablauf. Flug AA 4184 wird durchgeführt von der Regionalfluggesellschaft Simmons Airlines. An Bord sind 64 Passagiere, zwei Flugbegleiter und die beiden Piloten. Die ATR 72 mit der Kennung N401AM war erst sieben Monate zuvor vom Werk im französischen Toulouse an die Airline übergeben worden. Als ATR 72-200 ist sie ausgestattet mit PW127-Triebwerken von Pratt & Whitney und Vier-Blatt-Propellern. Die Verantwortung für den Flug hat Kapitän Orlando Aguilar (29). Er ist mit fast 8000 Flugstunden, davon 1548 Stunden auf ATR-Flugzeugen, recht erfahren. Sein Copilot ist der zehn Jahre ältere Jeffrey Gagliano mit 5000 Flugstunden Erfahrung, davon 3657 auf ATR 42 und 72. Beide Piloten sind in O’Hare stationiert.

Schlechtes Wetter schon vor Abflug bekannt: LUCIT ermöglicht Warteschleifen

Die Streckenfreigabe nach Chicago erfolgt mit dem Hinweis, dass über dem Wegpunkt LUCIT, etwa 98 Kilometer vor Chicago gelegen, mit Warteschleifen zu rechnen sei. Als Grund wird das sich weiter verschlechternde Wetter angegeben. Auf Kurs Nordwest navigiert Copilot Gagliano das Propellerflugzeug entlang der Lafayette im US-Bundesstaat Indiana auf eine Reiseflughöhe von knapp 5000 Metern Fuß. „Eagle Air 4184“, so das Rufzeichen des Flugs, wird wie erwartet vom Fluglotsen aufgefordert, über LUCIT ovale Warteschleifen zu fliegen.

Als Flughöhe werden 10 000 Fuß zugewiesen, also gut 3000 Meter. Die Außentemperatur liegt mit 2,5 Grad Celsius nur knapp im positiven Bereich. Flug 4184 fliegt immer wieder in Wolken ein, die ja aus winzigen Wassertröpfen bestehen. Dennoch haben die Piloten das Enteisungssystem des Flugzeugs nicht aktiviert. Das steht im Gegensatz zum Handbuch der ATR: Dort ist vorgeschrieben, das System bei weniger als sieben Grad Außentemperatur und „sichtbarer Feuchtigkeit“ einzuschalten, also etwa in Wolken oder Regen.

Warteschleifen vor Chicago: Der Anfang vom Ende der AA 4184

Gegen 15.24 Uhr erreicht AA 4184 den Wegpunkt LUCIT und dreht rechtsherum in die Warteschleife. Mit einer schnellen Freigabe nach Chicago ist nicht zu rechnen. Der Autopilot dreht American Eagle 4184 nun alle drei Minuten um 180 Grad nach rechts. In der zweiten Runde bemerkt Kapitän Aguilar den relativ hohen Anstellwinkel der Maschine. Er setzt die Landeklappen auf 15 Grad, die Geschwindigkeit pendelt sich bei 175 Knoten ein und die Längsachse des Flugzeugs senkt sich fast in die Horizonale.

Für die Unfalluntersuchung besprüht ein Tankflugzeug KC-135 der Air Force eine ATR 72 mit Wasser. Bild: NTSB

Es ist 15.33 Uhr, als das Warnsignal das Anti-Icing Advisory Systems (AAS) erste Anzeichen des Eisansatzes meldet. Keiner der Piloten nimmt Notiz. In einem der Funkgeräte ist ein Musiksender eingedreht; Kapitän Aguilar demonstriert einer Flugbegleiterin die Warnsysteme an Bord. Um 15.41 Uhr dann ertönt erneut der Warnton des AAS. Jetzt wird das Enteisungssystem eingeschaltet und die Triebwerkleistung von 77 auf 86 Prozent erhöht. Die Maschine durchfliegt leichten Niederschlag, die Außentemperatur liegt bei plus zwei Grad Celsius.

Störung der Strömung: Was passiert da?

Vereisung ist für Flugzeuge nicht etwa durch das zusätzliche Gewicht des Wassers an der Struktur gefährdet, sondern vor allem dadurch, dass Eisansatz mit seiner unregelmäßigen Form die Luftströmung stört – und damit auch die Erzeugung des Auftriebs. So sind Enteisungssysteme vor allem an den Vorderkanten der auftriebserzeugenden Flächen angebracht, wo der Strömungsverlauf besonders wichtig ist.

Die ATR 72 verfügt über mehrere Enteisungssysteme. Die Pitot-Rohre zur Geschwindigkeitsmessung, Cockpitscheiben und Propeller sind elektrisch beheizbar, während die Vorderkanten der Tragflächen und des Höhenleitwerks mit Gummihäuten überzogen sind, die sich in regelmäßigen Abständen aufblasen und so den Eisansatz absprengen – sogenannte pneumatische Systeme.

Die dritte Wartschleife nutzt der Kapitain Aquilar für eine Passagieransage. Er entschuldigt sich für die Verzögerungen und informierte über Anschlussflüge ab Chicago. Am Ende der dritten Warteschleife bemerkt Aguilar erste Anzeichen von Vereisung. „Man sieht etwas Eis jetzt“, sagt er beim Blick aus dem Fenster. Doch die Tragflächenoberseiten sind bei dem Hochdecker nicht einsehbar. Die Stimmung an Bord bleibt entspannt: Der Kapitän verlässt das Cockpit, in der vierten Runde durch die Warteschleife unterhalten sich Copilot Gagliano, die Stewardessen und Kapitän Aguilar fünf Minuten lang über die Bordsprechanlage.

Kapitän: „Wir haben immer noch Eis“

Um 15.55 Uhr sagt Gagliano: „Wir haben immer noch Eis.“ Die Fluglotsin weist Flug 4184 nun an, auf 8000 Fuß (2438 Meter) zu sinken. Keine Antwort. Erst als die Lotsin ihre Anordnung wiederholt, reagiert die Crew. Die Außentemperatur erhöht sich auf vier Grad. Die Geschwindigkeit steigt während des Sinkflugs auf 186 Knoten, was kurzzeitige eine Over-Speed-Warnung auslöst. Weil die Klappen auf 15 Grad ausgefahren sind, ist die zulässige Geschwindigkeit herabgesetzt. So werden Schäden am Klappenmechanismus durch erhöhte Strömungsgeschwindigkeit vermieden.

Die Crew entscheidet sich zum Einfahren der Landeklappen. Keine zwei Sekunden später geschieht es: Mit einem Schnappgeräusch schaltete sich der Autopilot ab, die ATR72 wird nach rechts herumgerissen. Das Flugzeug dreht sich auf 77 Grad Schräglage, der Rumpf senkt sich zu Boden. Beide Piloten versuchen verzweifelt, der Drehung entgegen zu steuern. Doch vergebens: Das Flugzeug wird unkontrollierbar, die ATR rollt kopfüber und stößt fast senkrecht zur Erde.

Nur das blau-rote Seitenleitwerk von Flug AA 4184 ist noch erkennbar. Bild: NTSB

Ganz langsam richtete sich die Nase auf. Doch es ist zu spät. Um 15.59 Uhr zerschellt AA 4184 nahe des Orts Roselawn in Indiana. Außer dem Leitwerk bleiben von der 27 Meter langen Propellermaschine nur kleinere Bruchstücke übrig. Sofort ist klar, dass keiner der 68 Menschen an Bord eine Chance hatte, diesen Aufprall zu überleben.

Absturz von Flug AA 4184: Behörde NTSB unter Druck

Der Absturz von Flug AA 4184 markierte den Abschluss eines schlimmen Jahres für die Flugsicherheit in den USA. Im September 1994 war eine Boeing 737 im Landeanflug auf Pittsburgh abgestürzt. Alle 132 Insassen starben. Im Juli fiel unter ähnlichen Umständen eine DC-9 der US Airways nahe Charlotte vom Himmel. 37 Tote waren die schreckliche Bilanz.

Im Januar starben fünf Menschen an Bord einer BAe Jetstream der Atlantic Coast Airlines nahe Port Columbus. US-Medien begannen, öffentlich an der Flugsicherheit der heimischen Luftfahrt zu zweifeln. Der Crash in Roselawn verstärkte die Verunsicherung stark. Man verlangte Antworten von der nationalen Transport-Sicherheitsbehörde (NTSB).

Flugunfalluntersuchung: Warum fiel die brandneue ATR 72 vom Himmel?

Die Behörde schickte ein Untersuchungsteam unter der Leitung von Greg Feith nach Indiana, einem herausragenden Fachmann auf dem Gebiet der Flugunfalluntersuchung. Warum fiel diese brandneue ATR 72 ohne Anzeichen einer Notlage vom Himmel? Sowohl der Flugdatenschreiber (FDR) als auch der Cockpit Voice Recorder (CVR) wurden beschädigt, aber intakt ins NTSB-Labor nach Washington gebracht. Das Team von Greg Feith erhielt die Information, dass verschiedene Flugzeuge an jenem Tag im Luftraum von Chicago Probleme mit Eisansatz im Flug bekamen. Alle landeten dennoch sicher.

Einen technischen Fehler konnten die Experten schnell ausschließen. So lieferte das CVR-Gerät den Hinweis, dass die Piloten neun Minuten vor dem Unglück wussten, dass ihr Flugzeug Eis ansetzte und dass Kapitän Aguilar das Enteisungssystem einschaltete. Während die Untersuchungen weiterliefen, regte sich Unmut unter den Piloten bei Simmons Airlines, die seit längerem die ATR 72 für zu unsicher bei Eisbildung ansahen. Die Skepsis kam nicht von ungefähr: Seit 1987 war es zu mehreren tödlichen Unfällen mit dem kürzeren Muster ATR 42 im Zusammenhang mit Vereisung ge- kommen. Ein Dutzend Piloten weigerte sich, das Muster zu fliegen.

Supercooled Large Droplets

Greg Feith und sein Team grübelten derweil über der Frage, warum die ATR mit funktionierendem und eingeschalteten Enteisungssystemen mitten in einem stabilen Warteschleifenverfahren ohne Vorwarnung außer Kontrolle geraten konnte. In den Fokus geriet schließlich ein bis dahin kaum bekanntes meteorologisches Phänomen im Zusammenhang mit gefrierendem Regen. So nennt man Wassertropfen, die zwar eine Temperatur von unter null Grad haben, aber noch flüssig sind. Durch die kleinste Erschütterung, etwa beim Zusammenprall mit einem Flugzeug, gefriert das Wasser schlagartig.

An jenem Nachmittag herrschten im Luftraum von Chicago ideale Bedingungen für die Bildung sogenannter Supercooled Large Droplets, kurz SLD. Bei gefrierendem Regen mit SLD sind die Tropfen des unterkühlten Wasser besonders groß. Es dauert etwas länger, bis das Wasser beim Auftreffen auf ein Flugzeug gefriert. So kann es, von der Strömung getragen, auf der Tragflächenoberseite bis hinter den Bereich der Enteisungsanlage fließen und erst dort gefrieren.

Das ist bei Flug AA 4184 passiert

Als Flug AA 4184 im Verlauf der Warteschleifen immer wieder einzelne Wolkenformationen durchflog, konnte sich so eine immer dickere Eisschicht an der Tragflächenoberseite aufbauen. Nach über 30 Minuten war die Eisschicht so massiv, dass sie schließlich Verwirbelungen an der Tragflächen-Hinterkante hervorrief. Das auslösende Moment des Unglücks war dann das Einziehen der Klappen gewesen. Dadurch veränderte sich der Anstellwinkel über die Tragflächen so, dass die Verwirbelungen durch den Eisansatz das rechte Querruder förmlich nach oben saugten. So entstand die schlagartige Rollbewegung nach rechts. Auch weil die ATR nicht mit einer Servo-Unterstützung für die Steuersäulen ausgerüstet war, hatten beide Piloten kaum eine Chance.

Ein Flugzeug stürzt durch Vereisung ab: Der Eisansatz bildete sich hinter dem Enteisungssystem und verursachte Verwirbelungen, die zum Verlust des Auftriebs führten.
Ein Flugzeug stürzt durch Vereisung ab: Der Eisansatz bildete sich hinter dem Enteisungssystem und verursachte Verwirbelungen, die zum Verlust des Auftriebs führten. Bild: MAYDAY AIR

Sicherheitsrisiko der Tragfläche als Auslöser des Einsatzes

Die Unfalluntersucher des NTSB kamen zu dem Schluss, dass die ATR-Serie eine Tragfläche hatte, die bei Vereisung ein Sicherheitsrisiko darstellte. Die FAA untersagte daraufhin den Betrieb der ATR 42/72 bei Wet- terlagen, die Eisansatz begünstigen. Hersteller ATR und die französische Un- tersuchungsbehörde BEA legten Einspruch gegen die Schlussfolgerungen des NTSB-Berichts ein. Aus ihrer Sicht stand ihr Produkt zu Unrecht am Pranger, man klassifizierte den Crash von Roselawn als Pilotenfehler. Dieser Argumentation konnte man in den USA angesichts der überwältigenden Sachlage auch früherer ATR-Eisunfälle nicht folgen. Simmons Airlines und American Eagle wollten mit der ATR kein Risiko mehr eingehen und verlegten alle Maschinen dieses Typs nach Puerto Rico.

ATR konzipierte bei nachfolgenden Varianten die Enteisungssysteme der Tragflächen neu und gab neue Flugverfahren und Verhaltensregeln für Piloten, die im Eiswetter unterwegs sind, heraus, sodass die Verbote schließlich aufgehoben wurden. Zudem passten die Behörden die Zulassungsverfahren für Enteisungsanlagen an. Sie werden seit 2014 auch gezielt auf ihre Wirksamkeit bei SLD, gefrierendem Regen und gefrierendem Niesel überprüft. Außerdem enthalten Luftfahrt-Wetterberichte nun konkrete Vorhersagen für die Gefahr von Supercooled Large Droplets. Deren Risiken für die weltweite Luftfahrt wurden durch den Unfall von Roselawn offensichtlich.

Text: Jan-Arwed Richter