Unfälle in der Luftfahrt: Mehr Sicherheit durch Künstliche Intelligenz?

Immer öfter skizzieren Flugzeughersteller oder Airlines die Vision vom autonomen Fliegen ohne Pilot. Kann die dabei zum Einsatz kommende künstliche Intelligenz einen Sicherheitsgewinn bringen?
Bei mehr als 80 Prozent aller Flugunfälle hatte in der Kausalkette, die zum Unglück führte, der Mensch die Hand im Spiel. Wäre es da nicht besser, noch stärker auf Automation zu setzen – bis hin zur künstlichen Intelligenz (KI)? Der Zusammenstoß von Überlingen ist das schwerste Flugzeugunglück, das sich im deutschen Luftraum bislang ereignet hat. Am 1. Juli 2002 kollidierten am Himmel über dem Bodensee eine Boeing 757-200 der DHL und eine Tupolew Tu-154M der Bashkirian Airlines. 71 Menschen kamen ums Leben. Die Hintergründe des Zusammenstoßes beider Maschinen sind inzwischen gut bekannt.
Beide Flugzeuge waren entsprechend den international gültigen Vorschriften mit einem ACAS/TCAS (Airborne Collision Avoidance System/Traffic Alert and Collision Avoidance System) in der neuesten Version ausgerüstet, dem TCAS II. Das System warnt automatisch vor anderen Flugzeugen und gibt bei drohender Kollision konkrete Ausweichanweisungen, sogenannte Resolution Advisories. Dabei stimmen sich die Systeme ohne Eingreifen der Piloten per Funk untereinander ab: In einem der beiden Flugzeuge wird die Crew durch automatische Ansagen zum Steigen aufgefordert, im anderen zum Sinken – jeweils in sehr dringlichem Ton. Die beiden Unfallmaschinen waren in der Obhut der Verkehrskontrolle Zürich beide in Flugfläche 360 (etwa 36 000 Fuß oder 11 000 Meter Höhe) unterwegs und flogen aufeinander zu. 30 Sekunden, nachdem die 757 auf dem Display des TCAS des russischen Flugzeugs aufgetaucht war, warnte das System bereits mit der Ansage: „Traffic, Traffic“.
einer Kausalkette zum Unfallhergang beiträgt. Bild: ARCHIV
Auch der Radarlotse in Zürich hatte jetzt den Konflikt bemerkt und wies die Tupolew-Besatzung an, schnellstens auf Flugfläche 350 zu sinken. Die Besatzung folgte dem umgehend – allerdings gab das TCAS Sekunden später die gegenteilige Anweisung zum sofortigen Steigen. Die russische Crew blieb im Sinkflug. In derselben Sekunde schlug auch das TCAS an Bord der 757 Alarm. Es gab der Besatzung das Kommando zum Sinkflug, gemäß der „Absprache“ mit dem System der Tupolew, das dort zum Steigen aufgefordert hatte. Die 757 folgte dem Kommando unverzüglich. Als der Lotse erkennt, dass die Situation nicht entschärft ist, weist er die Tupolew an, schneller zu sinken. Sieben Sekunden folgt ein erneuter Alarm des TCAS, weil beide Flugzeuge weiterhin auf Kollisionskurs sind. An Bord der 757 ertönt das TCAS-Kommando „Increase decent“, in der Tu-154 „Increase climb”. Es soll also jeweils schneller gesunken beziehungsweise gestiegen werden. Doch auch jetzt folgt die russische Besatzung weiter der Anweisung des Fluglotsen. Sechs Sekunden später kommt es in 10 634 Meter Höhe zur Kollision.
Unfälle in der Luftfahrt: Der Mensch ist die Schwäche
Bei den allermeisten Unfällen in der Luftfahrt ist der Faktor Mensch das schwache Glied in der häufig langen Kette von Handlungen und Versäumnissen, die in die Katastrophe führt. Bei diesem schrecklichen Unglück gleich in mehrfacher Hinsicht: Da ist der Fluglotse, der später aus Rache ermordete wurde. Teil dieser Kausalkette ist aber auch das Management der Schweizer Flugsicherungsorganisation Skyguide, die es zuließ, dass sich einer der beiden zu verkehrsschwachen Zeiten tätigen Lotsen zur Ruhe legen durfte. Und schließlich hat auch die Qualitätssicherung der Skyguide versagt, weil sie den daraus resultierenden Verlust jeglicher Redundanz nicht erkannte. Darüber hinaus ist die Tragödie von Überlingen auf ein komplettes Systemversagen bei der Einführung von TCAS zurückzuführen.
„Die Integration von ACAS/TCAS II in das System Luftfahrt war unzureichend und entsprach nicht in allen Punkten der Systemphilosophie. Das für ACAS/TCAS II von der ICAO veröffentlichte Regelwerk und in der Folge damit auch die Regelungen der nationalen Luftfahrtbehörden sowie die Betriebs- und Verfahrensanweisungen des TCAS-Herstellers und der Luftfahrtunternehmen waren nicht einheitlich, lückenhaft und teilweise in sich widersprüchlich“, heißt es im Abschlussbericht der Bundesanstalt für Flugunfalluntersuchung (BFU). Inzwischen sind die Versäumnisse ausgemerzt. Es wurde eine weltweit einheitliche Regelung geschaffen: Die 14 möglichen Anweisungen, die ein TCAS abgeben kann, sind für die Besatzungen verbindlich und unmittelbar umzusetzen. Die Piloten haben gar keinen Entscheidungsspielraum mehr.
Airbus bietet seit 2009 sogar die Integration von TCAS und Autopilot an. Das Flugzeug folgt den Anweisungen des TCAS damit automatisch. Das ist ein zusätzlicher Gewinn an Sicherheit, denn aus einer auf der Auswertung von Radardaten basierenden Untersuchung der europäischen Flugsicherungsorganisation Eurocontrol aus dem Jahr 2022 geht hervor, dass nur 45 Prozent der Piloten korrekt auf die Anweisungen des TCAS reagieren. Die Regelung als solche ist ein Meilenstein. Sie bricht mit dem ehernen Prinzip, dass der Kommandant eines Flugzeugs stets die letzte Entscheidungsgewalt hat.
Er hat die uneingeschränkte Befugnis, alles tun, was er in einer gegebenen Situation für notwendig erachtet, um Gefahr vom Flugzeug und seinen Passagieren abzuwenden. Im Fall von TCAS ist es allerdings so, dass die Besatzung im Normalfall gar nicht über alle erforderlichen Informationen verfügt, um eine solche Entscheidung zu treffen. Die Technik weiß mehr als die Besatzung und entscheidet in Sekundenbruchteilen über ihren Kopf hinweg, welches das beste Manöver zur Lösung des Konflikts ist.
Automatisierung als Retter
Angesichts der rasanten Entwicklung auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz stellt sich inzwischen ganz generell die Frage: Wenn bei 75 Prozent aller Unfälle „Human Error“ die Ursache ist, und damit der Mensch die größte Schwachstelle im System, wäre es dann nicht am besten, ihn gleich komplett zu ersetzen? Aus der Luft gegriffen ist die Sache nicht. Für den Frachtverkehr beginnen Projekte Gestalt anzunehmen, bei denen die Piloten am Boden bleiben. Vorteil: Anders als Passagierbereich muss man sich erstmal nicht um die Akzeptanz bei den Fluggästen kümmern.
Die kanadische Regierung hat bereits 1,3 Millionen US-Dollar investiert, damit das Start-up Ribbit ein autonomes Frachtflugzeug bereit stellt. Dabei geht es um die Versorgung entlegener Siedlungen in der Weite der kanadischen Arktis. Das Start-up-Unternehmen Natilus will gar die weltweite Luftfracht durch den Einsatz von autonomen Nurflüglern revolutionieren und hat bereits Bestellungen über 480 Fluggeräte im Wert von 6,8 Milliarden US-Dollar eingesammelt. Den Anfang macht das Modell Kona mit 3,8 Tonnen Zuladung, 1600 Kilometer Reichweite und einer Reisegeschwindigkeit von 400 Stundenkilometern. Mit 26 Metern Spannweite ist es etwa so groß wie eine Turbopro-Maschine vom Typ ATR 72. Das größte Mitglied der Familie soll später dann sogare 143 Tonnen Nutzlast 9500 Kilometer weit transportieren können.
Selbstfahrende Autos
Das Zauberwort für pilotenloses Fliegen heißt hier wie auch im Bereich der Lufttaxis, die mit dem Kürzel eVTOL für electric Vertical Take-off and Landing bekannt sind: Künstliche Intelligenz. Doch ganz so einfach, wie die Befürworter es sich vorstellen, ist die Sache wohl nicht, und ganz so schnell wie sie hoffen, wird es auch kaum gehen. Die Automobilbranche bastelt schon seit zehn Jahren an selbstfahrenden Autos. Sie hat es nur mit zwei Dimensionen zu tun und ist trotzdem noch weit vom Ziel entfernt. Uber, einst Vorreiter auf dem Gebiet, hat sich inzwischen von aller Beteiligung an solchen Projekten verabschiedet. Laut einer Prognos-Studie werden sich autonome Autos frühestens ab 2040 durchsetzen. Auch wenn man argumentieren könnte, dass die Luft weniger Hindernisse aufweist als sich entlang von Straßen finden, ist kaum anzunehmen, dass die Luftfahrt da schneller ist.
Manfred Müller, ehemals Leiter der Flugsicherheitsforschung der Lufthansa und heute Dozent für Risikomanagement an der HAW Bremen und der TU München, ist skeptisch, dass es überhaupt möglich ist, die für eine Zulassung notwendigen Nachweise vollständig zu erbringen. In einem Vortrag während des von dem österreichischen Simulatorhersteller AMST veranstalteten Human-Factors Symposiums im Juni in Salzburg rechnete er vor, dass ein hypothetischer Supercomputer, der jede Sekunde 100 Millionen Systemzustände überprüfen kann, schon bei angenommen nur 100 Parametern, die einen Flug beeinflussen, für eine vollständige Kontrolle aller denkbaren Kombinationen 40 Billionen Jahre benötigen würde. Selbst wenn man die Geschwindigkeit dieser Überprüfung eines Tages um den Faktor Tausend beschleunigen könnte, würde der Vorgang immer noch dreimal länger dauern, als das Universum alt ist. Dabei hat Müller das Beispiel bereits stark vereinfacht.
virtuellen Copiloten zu entwickeln. Bild: DLR
Moderne Verkehrsflugzeuge zeichnen nicht nur 100 Parameter auf, sondern mehrere Zehntausend, die relevant sind. Ein grundsätzliches Problem komplexer KI-Systeme beziehungsweise der ihnen zugrundeliegenden tiefen neuronalen Netzwerke, ist der Mangel an Transparenz. Wie sie zu einer Entscheidung oder Prognose gekommen sind, lässt sich nicht im Detail nachvollziehen, was natürlich auch die Überprüfung des Ergebnisses auf seine Richtigkeit unmöglich macht. Selbst ChatGPT, ein Chatbot, der künstliche Intelligenz einsetzt, um mit Nutzern über textbasierte Nachrichten und Bilder zu kommunizieren, gibt auf entsprechende Nachfrage die Auskunft: „Während die Verfasser von KI Systemen ein grundlegendes Verständnis für deren Funktionsweise haben, sind moderne KI-Modelle so komplex, dass es schwer sein kann, jedes Detail ihres Verhaltens zu durchdringen.“
Undurchsichtige Wege
Der Mensch hat eine Fähigkeit, bei der ihm KI-Systeme nicht einmal ansatzweise das Wasser reichen können: seine Kreativität, und die Fähigkeit auch für unbekannte, hochkomplexe Probleme spontan Lösungen zu entwickeln. Eines der bekanntesten Beispiele aus der Luftfahrt dafür ist wohl der Qantas-Flug QF32. Am 4. November 2010 zerbarst bei der A380 wenige Minuten nach dem Start in Singapur in einem der Rolls-Royce-Trent-Motoren eine Turbinenscheibe. Die Trümmer durchschlugen die Triebwerksverkleidung und unter anderem den Flügel. Sie beschädigten Teile des Fahrwerks, des Flügels und des Treibstoffsystems sowie das Steuer- und Kontrollsystem des Nachbarmotors. Die Folge waren eine Vielzahl von Systemausfällen. Die Besatzung wurde förmlich mit Fehlermeldungen zugeschüttet.
Zusammen mit drei weiteren, zufällig an Bord befindlichen Kollegen fanden die Piloten einen Weg, eine Situation zu meistern, die nach menschlichem Ermessen nicht hatte vorkommen können – und für die es kein Vorbild gab. Teamwork, Systemverständnis und Kreativität rettete 469 Menschen an Bord das Leben. Dasselbe gilt für die berühmte Notwasserung der A320 von US Airways auf dem Hudson River. „Die Darstellung, dass die Menschen Fehler verursachen und die Technik die Probleme löst, ist falsch“, sagt Juan Carlos Lozano, Kapitän auf A320 bei Iberia und Vizepräsident der europäischen Pilotenvereinigung ECA.
Angesichts des Pilotenmangels und steigender Gehälter für Cockpit-Crews fordern manche Airline-Chefs, zumindest einen der beiden Piloten zu ersetzen. Vor einem halben Jahr sagte Tim Clark, Chef von Emirates und einer der einflussreichsten Manager der Airline-Industrie: „Künstliche Intelligenz wird einen großen Einfluss auf die Luftfahrtindustrie haben. Flugzeuge mit einem Piloten sind eine Möglichkeit.“ Am Institut für Flugführung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Braunschweig arbeitet man an den entsprechenden Grundlagen. Das Forschungsprogramm heißt NiCo (Next Generation Intelligent Cockpit). Es hat das Ziel, einen KI-basierten virtuellen Copiloten zu entwickeln, der dem menschlichen Piloten assistiert und ihm hilft, mit der hohen Arbeitslast durch dichten Luftverkehr, schwieriges Gelände und schlechtes Wetter ohne einen Verlust an Sicherheit fertig zu werden. Die Airbus-Tochter Airbus UpNext arbeitet in dem Programm „DragonFly“ an neuen Systemen zur Unterstützung von Piloten, die ebenfalls in diese Richtung führen könnten.
des NiCo-Projekts Wege zur Ablösung des Copiloten durch KI-Systeme. Bild: DLR
Airbus testet automatische Ausweichmanöver
Zu den neuen Technologien, die Airbus in einem A350-1000 testet, gehören unter anderem automatische Ausweichmanöver im Reiseflug, automatische Landungen und Unterstützung beim Manövrieren auf dem Boden. Das neue System soll in der Lage sein, zu jeder Zeit während des Flugs den nächstgelegenen passenden Flughafen auszuwählen und eine sichere Landung einzuleiten. In der Privat- und Geschäftsfliegerei gibt es das schon. Das System Garmin Autoland ist für eine Reihe von Flugzeugen mit Garmin- G3000-Cockpit zugelassen, darunter die Turboprops Piper M600SLS und Daher TBM 960 sowie der Cirrus SF50 VisionJet. Auch die Beechcraft Denali und sogar der HondaJet Elite II sollen damit ausgerüstet werden. Diese Flugzeuge können von nur einem Piloten geflogen werden. Fällt der aus, drücken die Passagiere den Notfallknopf und Autoland steuert die Maschine zur sicheren Landung.
Bei Thales sieht man sogar einen grundlegenden Wandel in der Rolle des Piloten: „In Zukunft könnte der Pilot eher ein Supervisor der Flugsteuerung und der Kommunikationssysteme an Bord sein, die mit Künstlicher Intelligenz arbeiten. Oder er könnte sich sogar am Boden befinden und sich via Cloud mit dem Flugzeug verbinden“, verkündete das Unternehmen schon 2018 in seiner Publikation All Magazine.
Ob diese Ingenieursträume Wirklichkeit werden, hängt von vielen Faktoren ab. Ohne den Nachweis, dass sie das heutige hohe Sicherheitsniveau im Luftverkehr weiter verbessern, besteht wenig Aussicht auf Verwirklichung. Letztlich müssen nicht nur Piloten dieser Technik vertrauen – sondern auch Passagiere.