CEO Dr. Mark Hiller sprach mit AERO INTERNATIONAL über aktuelle Branchentrends und die Frage, warum der Wirtschaftsstandort Deutschland besser ist als sein Ruf.

AERO INTERNATIONAL: Seit 73 Jahren fliegen wir im Linienverkehr mit Jets. Seitdem gibt es Waschräume, Küchen und Fluggastsitze an Bord. Wohin geht die Reise beim Sitzkomfort?

Mark Hiller: Zunächst lassen Sie mich bitte auf ein sehr wichtiges Thema eingehen: die Sicherheit. Hier wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten Großes geleistet. Sitzhersteller und Kabinenausstatter haben auch einen Beitrag gleistet, dass der Luftverkehr heute so sicher ist.

Welche Themen stehen aktuell auf Ihrem Plan für die Zukunft?

Wenn wir in die nächsten Jahre hineinschauen, dann steht das Thema Produktionshochlauf ganz oben auf der Agenda. Dazu zählen vor allem Maßnahmen, um die Volumensteigerung in Folge der großen Bestellzahlen an Passagierjets abzusichern – dies natürlich bei gleichbleibender Qualität und Flugsicherheit.

Schaut man sich auf der diesjährigen AIX um, so gibt es wenige bahnbrechende Neuheiten zu sehen.

Ja, das stimmt. So gut wie alle Hersteller von Sitzen oder Kabinenmonumenten sind damit beschäftigt, das Volumen zu steigern und Lösungen für die allgegenwärtige Lieferkettenproblematik zu finden.

Mit welchen technischen Trends befasst sich aktuell die Branche?

Zunächst spielt das Gewicht der Sitze – und hierbei der Leichtbau eine große Rolle. Je leichter die Sitze, um so effizienter und umweltfreundlicher kann man fliegen.

Dr. Mark Hiller ist CEO von Recaro Aircraft Seating und der Recaro Holding.
Dr. Mark Hiller ist CEO von Recaro Aircraft Seating und der Recaro Holding. Bild: Recaro

Schwere Kabinenelemente im Vorderbereich der Kabine – leichte hinten: Kann das in Bezug auf die optimale Schwerpunktlage des Flugzeugs gut gehen?

Das Thema „Weight and Balance“ im Flugzeug gewinnt immer mehr an Bedeutung. In den Premiumklassen im vorderen Teil der Flugzeugkabinen werden immer aufwändigere Einbauten installiert. Im Gegensatz dazu wird an den Economy-Class-Sitzen im hinteren Rumpfbereich immer mehr an Gewicht eingespart. Das hat unter dem Strich sicherlich geholfen das Gesamtgewicht aller Sitze an Bord zu reduzieren. Jedoch sehen wir jetzt schon in Einzelfällen, dass die Flugzeuge im Vorderbereich zu schwer sind.

Werden sich die Kabinenkonzepte generell weiterentwickeln?

Hier steht das Thema Ausdifferenzierung auf der Tagesordnung. Darunter versteht man, dass weitere Buchungsklassen und Kabinenzonen ergänzend hinzukommen werden – und das bereits in naher Zukunft.

Raum für Verbesserungen bietet sicherlich manche Business Class in Europa.

Wir sehen bei einigen europäischen Airlines, dass sie sich über eine weitere Differenzierung der Klassen Gedanken machen. Auch Recaro führt zahlreiche Diskussionen und Überlegungen mit diversen Fluglinien. Wir hatten bereits im Jahr 2017 das Konzept „Smart Cabin Reconfiguration“ als Forschungskooperation mit Airbus und THK entwickelt. Allerdings ist weit mehr mit einem neuen Kabinenkonzept verbunden als die reine Hardware.

Können Sie dies näher ausführen?

Führt man ein neues Konzept ein, gilt es zu überlegen, wie man einen zusätzlichen Umsatz generiert. Wie vermarktet man es im Wettbewerb – und nicht zuletzt wirft es

Ein weiteres AIX-Thema ist die Zugänglichkeit der Kabine

Wenn man sich die demografische Entwicklung anschaut, werden die Menschen immer älter, nicht nur in Deutschland. Auch werden sie nicht kleiner. Unsere Aufgabe ist es, Sitze zu entwickeln, die für die meisten Körpergrößen und -formen leicht zu nutzen sind. Das schließt die Möglichkeit ein, ohne Komplikationen von einem Rollstuhl auf den Sitz zu wechseln.

Recaro produziert Sitze für alle Klassen.
Recaro produziert Sitze für alle Klassen. Bild: Recaro

Worüber denkt die Branche mittelfristig nach?

Wir können sicherlich künftig unseren Beitrag dazu leisten, dass man die Flugzeugkabinen flexibler nutzen kann – je nach Streckenlänge und Passagieraufkommen. Wie das geschehen soll, ist zwar aktuell noch technisch ungelöst, aber die Branche ist dabei, kreative Ideen zu entwickeln.

Oft hört man Klagen über einen unattraktiven Wirtschaftsstandort in Deutschland. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Wir stellen Produkte her, die nicht „von der Stange“ sind und die einen verschwindend geringen Automatisierungsgrad haben. Dies liegt an der großen Variantenvielfalt der angebotenen Sitze und am relativ geringen Volumen. Ich kann für Recaro sagen, dass wir auf den Standort Deutschland stolz sind. Wir sind stolz auf die Produktion und Endmontage in Deutschland – und tun alles, um diese hier im Land zu halten. Recaro hält wenig davon, im Stammland lediglich ein Entwicklungszentrum zu unterhalten und die Fertigung auszulagern.

Worin sehen Sie die Stärke des Wirtschaftsstandorts Deutschland?

Wir sehen die Stärke des Standorts darin, dass wir die gesamte Prozesskette abbilden: von der Innovation, über die Entwicklung, den Vertrieb, die Beschaffung, den Kundendienst bis hin zur Produktion. Das funktioniert nicht für das ganz große Volumen – aber für komplexe Produkte und Abläufe.

Und die viel gescholtenen Standortkosten?

Wir sehen neben den viel zitierten hohen Standortkosten immense Vorteile, in Deutschland zu produzieren. Beispielsweise die große Flexibilität. So konnten wir die negativen Effekte der Pandemie über Kurzarbeit abfedern. Arbeitszeitkonten sind in vielen anderen Ländern hingegen ein Fremdwort. Bei den unterschiedlichen Produktionszyklen können wir die Arbeitszeitkonten entsprechend nutzen und müssen unter Umständen keine zusätzliche Schicht aufbauen.

Diese Vorteile werden in der Diskussion um den Wirtschaftsstandort Deutschland meist vergessen. Deutsche Mitarbeiter sind zudem hoch qualifiziert und dem Unternehmen gegenüber sehr loyal. Natürlich müssen auch wir um Arbeitskräfte werben, doch ist Recaro ein sehr attraktiver Arbeitgeber.