Pinnacle Airlines Flug 3701: Als der Ehrgeiz zwei Piloten das Leben kostete

Zwei Piloten ohne Passagiere auf einem Überführungsflug – eine einfache und unspektakuläre Aufgabe. Doch die Verführung, bei der Gelegenheit Grenzen auszureizen und Vorschriften zu ignorieren, bringt den Flug in eine hoffnungslose Lage.
Es ist wohl das härteste Urteil, dass es – meist in Internetforen – über Flugunfälle geben kann: Den höchst sarkastisch bezeichneten „Darwin Award“ erhalten Menschen, die sich durch eine außerordentliche und unüberlegte Fehleinschätzung umbringen – und so dafür sorgen, dass ihre Gene nicht an Nachkommen weitergegeben werden. Trotz aller Sicherheitsmechanismen in der Luftfahrt gibt es immer wieder Piloten, die sich – oft aus Leichtsinn und Angeberei – für diese zweifelhafte Auszeichnung qualifizieren. Zwei Piloten, die am 14. Oktober 2004 mit ihrem Regionaljet vom Typ Bombardier CRJ2000 in den USA verunglückten, muss man wohl dazu zählen.
Pinnacle Airlines, heute Endeavor Air, ist eine der in den USA typischen Regionalairlines, die in den Farben einer großen Fluggesellschaft Zubringerflüge von kleineren Flughäfen zu den Hubs betreiben. Pinnacle flog 2004 für Northwest Airlines. Die Flotte bestand aus zwölf Turboprops vom Typ Saab 340, 90 Bombardier CRJ200 und CRJ400 sowie einer Handvoll der größeren CRJ700. Tragisch und nicht ohne Ironie steht der Name Pinnacle für „Gipfel“ – das wollten die zwei Unglückspiloten leider mehr als wörtlich nehmen. Doch der Reihe nach: Eigentlich sollte die Pinnacle-CRJ200 mit der Kennung N8396A am 14. Oktober 2004 zu einem Linienflug von Little Rock im US-Bundesstaat Arkansas starten. Doch die Avionik meldete ein Problem mit dem Zapfluftsystem des rechten Triebwerks. Der Start wurde abgebrochen, Techniker kamen an Bord. Erst nach Stunden konnte das Problem gelöst werden. Es war bereits dunkel, der Linienflug war längst storniert.
Pinnacle Airlines Flug 3701: Zwei Bereitschafts-Piloten werden zum Dienst gerufen
Da N8396A jedoch für den nächsten Tag in Minneapolis in Minnesota verplant war, klingelten bei zwei Bereitschafts-Piloten in Detroit die Telefone. Zusammen sollten sie nach Little Rock fliegen, dort den Jet übernehmen und leer nach Minneapolis überführen. Ein Ferry-Flug ist zwar nicht alltäglich, aber außer dem Fehlen von Passagieren und Cabin Crew unterscheidet ihn fliegerisch nichts von jedem anderen Flug. Verantwortlicher Kapitän war der 31 Jahre alte Jesse Rhodes, der über 9300 Flugstunden auf seinem Konto hatte, davon 973 in der CRJ200. Rechts neben ihm saß Copilot Peter Cesarz (23), der erst vor sechs Monaten bei Pinnacle angeheuert hatte und 761 Flugstunden aufwies. Rhodes und Cesarz landeten als Passagiere eines Linienflugs kurz nach 20.30 Uhr in Little Rock und begaben sich sogleich zu ihrem Flugzeug, um mit den Flugvorbereitungen zu beginnen.
für Northwest Airlines. Bild: Nathan Zalcman/AirTeamImages
Um 21.21 Uhr hob Flug FLG 3701 in den Nachthimmel ab. Das Kürzel ist eine Anlehnung an das Funkrufzeichen der Airline: „Flagship“. Wer dachte, die Piloten würden ganz normal nach Handbuch fliegen, sah sich bereits fünf Sekunden nach dem Abheben eines Besseren belehrt. Die Piloten zogen den leeren Regionaljet mit maximaler Steigrate in die Höhe. Schon jetzt wurde klar, dass die Piloten es ausnutzten, mal allein in ihrem Jet an die Leistungsgrenzen zu gehen. Rhodes and Cesarz jagten den Regionaljet so steil in den Himmel, dass sie eine Warnung vor einem drohenden Strömungsabriss (Stall) bekamen und das automatische Sicherheitssystem die Nase wieder nach unten drückte.
Nachdem in 4200 Metern Höhe der Autopilot aktiviert wurde, wechselten die Piloten ihre Sitze. Kapitän Rhodes war jetzt im rechten Sitz zuständig für den Funkverkehr und die Bordsysteme, Copilot Cesarz wurde zum fliegenden Piloten. Keine 20 Sekunden später wurde erneut die Nase steil nach oben gezogen, sodass beide Piloten mit 2,3 g in die Sitze gedrückt wurden. Jetzt wurden die Pedale des Seitenruders mehrfach hin und her getreten, was seitliche Beschleunigungskräfte bewirkte. Rhodes und Cesarz setzten danach ihren Steigflug in Richtung Norden auf die freigegebene Höhe von 33 000 Fuß (10 Kilometer) fort.
Doch die Piloten wollten mehr: Bei Pinnacle hatte sich offenbar ein »410 Club« etabliert: Mitglied wurden alle Piloten, die den CRJ auf seine Dienstgipfelhöhe von 41 000 Fuß (12,5 Kilometer) gebracht hatten – meist auf Überführungsflügen, bei denen keiner so genau hinschaut und die Maschine ohne Passagiere sehr viel weniger Gewicht hat. Entsprechend erbat der Kapitän den Steigflug auf Flugfläche 410. All diese Kapriolen hätten ein gutes Ende nehmen können, doch die Piloten machten nun den ersten schwerwiegenden Fehler.
Um die Maximalhöhe zu erreichen, muss man mit zunehmender Flughöhe darauf achten, immer ausreichend Geschwindigkeit zu haben, da ansonsten die Gefahr eines Strömungsabrisses an den Tragflächen besteht. Im Autopiloten der CRJ200 hätte man 250 Knoten als zu haltende Geschwindigkeit eingeben müssen – dann wäre die Maschine mit der resultierende Steigrate so schnell wie eben möglich gestiegen. Doch Rhodes und Cesarz gaben dem Autopiloten eine Steigrate von 500 Fuß pro Minute vor. Die versuchte der Autopilot nun einzuhalten – und veränderte dazu die Geschwindigkeit entsprechend.
Willkommen im „410 Club“!
Doch in so großer Höhe reicht die Schubstärke der Triebwerke einer CRJ200 nicht, um mit 500 Fuß in der Minute zu steigen. Je höher der Jet stieg, umso mehr sank die Geschwindigkeit. Flug FLG 3701 verlor nun langsam immer weiter an Tempo. Um 21.48 Uhr durchstieg die Maschine 40 000 Fuß. Und dann war es so weit: Flugfläche 410 war erreicht. Die Anzeigen der Höhenmesser stoppten bei 41 000 Fuss. Willkommen im Club … Was keiner im Cockpit bemerkte: Der Regionaljet war mit 163 Knoten viel zu langsam geworden. Der Autopilot hob die Nase der Maschine immer mehr an, um die Höhe zu halten – das Flugzeug wurde noch langsamer.
Um 21.52 Uhr fragte Rhodes, ob sein Copilot etwas trinken wollte. Er entfernte sich – entgegen den Vorschriften – kurzzeitig aus dem Cockpit. Sie stießen mit zwei Dosen Cola auf ihren Erfolg an. Es folgten scherzhafte Bemerkungen übers Biertrinken und die verschlossene Bordbar. Dann fiel Rhodes Blick auf die Instrumente. „Beschleunigen wir nicht?“, fragte er. Cesarz bestätigte das. „Guck mal, wie hoch wir sind. Diese verdammte Nase ist … Schau dir an, wie hoch die Nase ist“, sagte der Kapitän.
Längere Konversation mit dem Fluglotsen
Erstmals dämmerte den beiden, dass ihre Lage nicht gut war. Es entstand eine längere Konversation mit dem Fluglotsen, dem aufgefallen war, eine CRJ200 nie in solcher Höhe gesehen zu haben. Rhodes räumte ein, Level 410 nicht mehr lange halten zu können und kündigte die Fortsetzung des Reiseflugs auf einer tieferen Höhe an. Zu dieser Zeit waren die Turbinenblätter der Triebwerke durch die maximale Arbeitsbelastung so heiß gelaufen, dass einige begannen zu schmelzen. Gleichzeitig war die
Geschwindigkeit auf 150 Knoten abgefallen. Erneut aktivierte sich die Überziehwarnung mit einem Rütteln der Steuersäulen, dem Stick Shaker. Automatisch wurde die Nase nach unten gedrückt, um einen Stall zu verhindern. Doch der immer noch eingeschaltete Autopilot versuchte erneut, die eingestellte Höhe zu halten. Schließlich riss die Strömung an den Tragflächen ab, die Maschine kippte nach vorn und um 82 Grad auf die linke Seite. Beide Triebwerke versagten fast simultan, als auch der Luftstrom durch die Triebwerke zusammenbrach. Rhodes funkte einen Notruf und versuchte, die Maschine wieder gerade auszurichten und drückte gleichzeitig die Nase nach unten, um wieder Fahrt aufzunehmen.
Crew gelingt halbwegs stabiler Sinkflug
Doch die Ruderwirkung war aufgrund der fehlenden Luftströmung kaum vorhanden. In 34 000 Fuß gelang es der Crew, einen halbwegs stabilen Sinkflug einzunehmen. Zwar lag die Luftströmung wieder an den Tragflächen an, aber beide Triebwerke waren tot. So brach auch die Energieversorgung an Bord zusammen. Fast das gesamte Cockpit lag im Dunkel. Nur die Instrumente auf der linken Seite, wo Copilot Cesarz saß, und einige Notinstrumente waren durch eine Batterie beleuchtet. Es wurde der kleine Propeller des Air-Driven Generators (AGD) ausgefahren, der in solchen Notfällen im Fahrtwind dreht und so Strom erzeugt. Jetzt gab es nur ein Thema: Die Triebwerke mussten wieder laufen.
Jeder CRJ-Pilot sollte wissen, dass die Triebwerke allein durch den Luftstrom nur starten, wenn eine Mindestgeschwindigkeit von 240 Knoten anliegt. Doch Cesarz drückte die Flugzeugnase so zaghaft nach unten, dass der Wert nie über 236 Knoten hinauskam. Rhodes schritt auch nicht ein, um zu korrigieren. Plan B war nun ein Anlassen mit der Hilfsturbine im Heck (Auxiliary Power Unit, APU). Doch die funktioniert erst unterhalb von 13 000 Fuß. Zu keiner Zeit kam es den Piloten in den Sinn, die Checklisten für einen Neustart beider Triebwerke zu Rate zu ziehen. Nun fragte der Lotse nach den Gründen für den Notfall. Rhodes log, dass nur eines der beiden Triebwerke ausgefallen sei und man versuchen werde, das andere zu starten.
Die Turbinen sind verklemmt
Zwei Drittel ihrer Flughöhe hatten Rhodes und Cesarz bereits eingebüßt, als sie mit der Anlassprozedur der Triebwerke begannen. Vier Mal versuchten sie es. Vier Mal blieben sie erfolglos. Die Turbinenräder fingen nicht an zu rotieren. Konnten sie auch nicht. Aufgrund der eisigen Umgebungstemperaturen in 41 000 Fuß war der bis an den Schmelzpunkt erhitzte Hochdruck-Turbinenbereich nach dem Ausfall je nach Material unterschiedlich stark abgekühlte. Das schneller schrumpfende Gehäuse hatte die Turbinenschaufeln eingeklemmt. Fachleute sprechen von einem „Core Lock“, eine bis dahin unbekannte Eigenart des CF34-3-Triebwerks der CRJ200. Zwar wären die Turbinenteile im weiteren Sinkflug wieder in die Ausgangslage zurückgekehrt, doch hierfür fehlte den Piloten einfach die Zeit. Spätestens jetzt hätte die Crew sofort die nächstgelegene Landebahn ansteuern müssen.
Ein Flugplatz am nahen Ozark-Stausee in Missouri wäre aus nunmehr 10 000 Fuß noch erreichbar gewesen, doch die Piloten hatten sich für den größeren, aber weiter entfernten Airport von Jefferson City voraus entschieden. Als die Lichter des Flughafens in acht Meilen Entfernung in Sicht kamen, war Rhodes sofort klar: „Wir sind zu tief.“ Die Crew suchte im Dunkel nach einer Straße, dann folgte der letzte Ausruf von Kapitän Rhodes auf dem Stimmenrekorder: „Ah Sch …, wir werden die Häuser da treffen, Alter.“ Zwei Sekunden später kappte ein Baum mehrere Meter der linken Tragfläche, was den Jet schlagartig nach links kippen ließ. Die CRJ legte sich auf den Rücken, prallte gegen weitere Bäume, kreuzte eine Wohnstraße in einer ruhigen Vorortsiedlung und hinterließ eine Schneise der Verwüstung über sechs Grundstücke, bis der Unglücksflug FLG 3701 beendet war. Rhodes und Cesarz waren auf der Stelle tot. Wie durch ein Wunder kam niemand am Boden zu Schaden, da keines der Wohnhäuser getroffen wurde.
Viele Fragen und einige Lehren ergaben sich aus dem Crash von Jeffferson City. Zum einen wurde der Triebwerkhersteller General Electric aufgefordert, das Triebwerk CF34 und seine Nachfolger so zu konstruieren, dass ein „Core Lock“ nicht mehr auftreten kann. Doch die weitaus wichtigere Erkenntnis aus Flug 3701 lag in der Einstellung der Piloten zu ihrem Job. Vorschriften, Vorgaben und als Standardverfahren festgelegte Handlungsabläufe sind wichtig – auch, wenn keine Passagiere an Bord sind. Die Sicherheit des Flugs muss an erster Stelle stehen. Wer diese Grundprinzipien gegen Angeberei, einen vorgeblichen „Ruhm“ oder auch nur zum „Spass haben“ eintauscht, gefährdet nicht nur andere – sondern auch sich selbst.
Die Crew des Pinnacle-Flugs wird sicher keine selbstmörderischen Absichten gehabt haben. Tragisch war, dass die Piloten bei Eintritt des Stalls und der Wiedererlangung der Kontrolle noch diverse Optionen gehabt hätten, um ihr Flugzeug sicher auf den Boden zu bringen. Doch auch dazu hätten sie den vorgegebenen Verfahren folgen müssen. Tatsächlich fassen manche professionelle Piloten diese Erkenntnisse in einem simplen Mantra zusammen, das sie sich vor jedem Flug selbst vorgeben: Tu nichts Dummes!
Text: Jan-Arwed Richter
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