15.05.2015 Manchmal, so scheint es, ist ein Lebensweg einfach vorgezeichnet. Egal, was geschieht, das Schicksal lenkt den Menschen wieder auf die ihm vorgegebene Bahn. So wie Karl Kistler. Der Schweizer, der lange Jahre vermutlich weltweit der einzige fliegende CEO gewesen ist, hatte seine fliegerische Karriere eigentlich schon als Kind gestartet, als er zunächst aus Papier […]

15.05.2015

Manchmal, so scheint es, ist ein Lebensweg einfach vorgezeichnet. Egal, was geschieht, das Schicksal lenkt den Menschen wieder auf die ihm vorgegebene Bahn. So wie Karl Kistler. Der Schweizer, der lange Jahre vermutlich weltweit der einzige fliegende CEO gewesen ist, hatte seine fliegerische Karriere eigentlich schon als Kind gestartet, als er zunächst aus Papier über längere Strecken gleitende Flieger faltete und später als Teenager an Modellbausätzen bastelte. Eine Amigo war das erste Modellflugzeug, das wirklich gut flog – übrigens ein Bausatz, den es auch heute noch zu kaufen gibt. Ein Kunstflugpilot, der Kistler und seine Freunde dort im schweizerischen Hinterthurgau regelmäßig mit den Modellflugzeugen hantieren sah, meinte es gut und lud die Jungen zu einem Mitflug ein. Und damit stand eine erstaunliche Karriere, die noch nicht einmal begonnen hatte, um Haaresbreite auf der Kippe. Das Erlebnis Kunstflug hatte den jungen Kistler so nachhaltig geprägt, dass für ihn fortan feststand: „Fliegen ist nicht mein Ding.“

Zwar hatte es ihm die Luftfahrt nach wie vor angetan, weshalb er sich während seiner Militärzeit auf die Fallschirmspringerei verlegte. Beruflich aber ging er andere Wege, lernte Elektromonteur, bildete sich weiter, landete schließlich in der Labor- und Messtechnik. Dennoch holte ihn das Schicksal langsam, aber sicher auf seinen eigentlichen Weg zurück. Denn auch nach Beendigung der Rekrutenschule blieb Kistler in privatem Rahmen der Springerei treu – zwischen 800 und 900 Sprünge hat er absolviert. Die Wochenenden führten ihn zu seinem Fallschirmspringerclub, dessen Absetzpilot eines Tages erzählte, dass er Fluglehreraspirant sei. Er müsse drei Privatpiloten ausbilden und frage sich, ob nicht auch die Fallschirmspringer interessiert an einer Flugausbildung wären. Kistler war, und so absolvierte er ab 1973 die Privatpilotenlizenz.

Irgendwann reichte ihm die Hobbyfliegerei nicht mehr. Er wollte ebenfalls Fluglehrer werden, machte die CPL-Theorie-Prüfung (CPL, Berufspilotenlizenz), sammelte die erforderlichen Flugstunden als Schlepper auf dem Segelflugplatz Schänis – 120 zusätzliche Stunden innerhalb von drei Monaten. 14 Tage nach Ausbildungsabschluss hätte er an der Flugschule Basel einen Job als festangestellter Fluglehrer gehabt, wäre da nicht immer noch sein (Berufs-)Leben außerhalb der Fliegerei gewesen. Und sein damaliger Chef wollte ihn, den Spezialisten im Labor, nicht einfach so gehen lassen.

Kompromisse machen, Lösungen anbieten – schon damals war es eine seiner Stärken, nach anderen Wegen zu suchen, das Unmögliche möglich zu machen. Und so erklärten sich Laborchef und Flugschule auf seinen Vorschlag hin bereit, dass er vier Monate lang von Montag bis Donnerstag in seinem Elektronikberuf arbeiten und von Freitag bis Sonntag seiner Pilotenberufung folgen konnte. Dann war er frei. Die Luftfahrt hatte ihn wieder, die eigentliche Karriere konnte beginnen.

Karl Kistler mit Hubschrauber

Nach fünf Jahren Bauzeit am zweisitzigen CH-7 Kompress Charlie nutzt Kistler seinen Helikopter seit 2009 regelmäßig zu Ausflügen in die Schweizer Berge. Bild: Edelweiss

 

Zwei Jahre lang unterrichtete Kistler an der Flugschule Basel, bildete sich nebenher weiter, machte das Instrumentenflugrating und trainierte angehende Berufspiloten. 1980 wechselte er zu Crossair als Kopilot ins Cockpit einer Metro III. Ein Jahr später war er Kapitän, später zudem Instruktor und Examiner, wechselte auf Saab 340 – und dann kam ein Anruf von der Balair. Die Schweizer Fluggesellschaft betrieb eine Fokker F-27 der Schweizerischen Eidgenossenschaft im Auftrag der Vereinten Nationen. Ob Kistler die Verantwortung für den Flugbetrieb des Turboprops im Nahen Osten als Delegationsleiter übernehmen wolle?

Er wollte, und so zog Familie Kistler im Herbst 1986 mit Sack und Pack, inklusive zweier schulpflichtiger Kinder, nach Jerusalem. Eine schöne Zeit sei das gewesen, auch und obwohl 1987 die erste Intifada – der Aufstand der Palästinenser gegen Israel – begann. Die Kinder gingen in die französische Schule. Kistler leitete den Flugbetrieb und schaffte es, nebenbei ein- bis zweimal pro Woche zu fliegen. Ziele waren Amman, Beirut, Damaskus, Kairo, Larnaca und alle 14 Tage eine kleine Piste in der Wüste des Sinai. Dort waren UNO-Beobachter stationiert, die den Waffenstillstand zwischen Israel und Ägypten im Auge behalten sollten. Der Anflug war noch einer der alten Schule. Kein GPS, kein VOR, hier waren reiner Sichtflug und navigatorisches Können mit Uhr und Windberechnung gefordert. Und die Landung musste sitzen – sofern die unmarkierte Bahn gerade frei war von rollenden Büschen oder wilden Kamelen.

Vier Jahre blieb Kistler selbst in Jerusalem, dann folgte er seiner Familie nach Hause, die im Jahr zuvor nach Zürich heimgekehrt war, damit die Kinder dort eine weiterführende Schule besuchen konnten. Als Mitarbeiter von Balair war er nach wie vor für den UNO-Flugbetrieb verantwortlich, doch nun reichte es, wenn er einmal im Monat nach Jerusalem flog. Er wurde operationeller Koordinator von Balair. Diese gehörte zur Swissair und hatte zwar eigenes Fluggerät und Kabinenpersonal, die Cockpits jedoch wurden von Swissair bereedert, Strecken in Absprache mit Swissair beflogen. Die Koordinierung des Flugbetriebs zwischen Balair und Swissair war Kistlers Aufgabe, doch – fliegen durfte er während dieser Zeit nur während seiner Abstecher nach Jerusalem, obwohl er sogar eine A310-Musterberechtigung in Toulouse erworben hatte. Dann fusionierten 1993 Balair und eine weitere Swissair-Tochter namens CTA in Genf, wobei Kistler stellvertretender Flugbetriebsleiter wurde und endlich seine Jet-Karriere auf MD-80 starten konnte.

Ende 1995 wurde Balair CTA aufgelöst, ebenso wie die UNO-Operation in Jerusalem, für deren Flugbetrieb Kistler nach wie vor verantwortlich gewesen war. Noch während dieser letzten Monate arbeitete er bereits an den Handbüchern für den Flugbetrieb einer neuen Fluggesellschaft, die der Schweizer Reiseveranstalter Kuoni gründen wollte: Edelweiss Air. Kistler hatte damals nicht viel Bedenkzeit gehabt, ob er den Job des Flottenchefs annehmen sollte. Zwei Tage reichten jedoch, und so schloss er zum 31.12.1995 den Flugbetrieb bei Balair endgültig und begann am Tag darauf bei der jungen Edelweiss. Diese startete mit MD-83, flottete im Jahr darauf die erste A320 ein und entschied sich kurz vor der Jahrtausendwende mit A330-200 für das erste Großraumgerät. Am Steuer des ersten Langstreckenflugs der Gesellschaft am 20. November 2000 saß denn auch kein Geringerer als – Karl Kistler. 2002 verabschiedete sich Edelweiss-Gründer und -CEO Nick Grob in den Ruhestand, und wieder war es Kistler, der gefragt wurde, ob er den Job haben wolle.

Kistler absolvierte daraufhin die „Schweizerischen Kurse für Unternehmensführung“ und dachte darüber nach, was es heißt, einen Dienstleistungsbetrieb zu führen. Den Flugbetrieb kannte er ja hinlänglich. Und letztlich, sagt er, sei es gar nicht so schwer gewesen. Denn die Grundvoraussetzung für einen Job, bei dem man Verantwortung übernimmt, bei dem Menschen involviert sind, sei die, dass man Menschen gern haben müsse. Das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren könne, sei Ignoranz durch andere. Und auf Ignoranz beziehungsweise mangelnde Akzeptanz ließen sich viele Probleme zurückführen, die in Firmen letztlich viel Geld kosteten und im privaten Bereich häufig zur Trennung führten.

Aufmerksamkeit und Freundlichkeit lebt Kistler vor, denn „wenn ein Mitarbeiter dreimal zu mir kommt und ich dreimal keine Zeit habe, macht er es beim Kunden genauso“. Kistler nahm sich Zeit für seine Mitarbeiter – kaum einer wurde eingestellt, mit dem Kistler nicht darüber diskutierte, was ein Unternehmen ausmacht, welchen Unterschied Aufmerksamkeit bewirkt, das Konzept des „Little Extra“. „CEO-Introduction“ nennt er das.

Edelweiss

Edelweiss Air ist Ende 2000 in das Langstreckengeschäft eingestiegen. Der Jungfernflug nach Malé war noch mit A330-200 erfolgt, inzwischen setzt sie eine -300 ein. Bild: Dietmar Plath

 

Nebenbei saß Kistler regelmäßig immer auch im Cockpit, sowohl auf den „kurzen“ Langstrecken, mit nur einer Nacht Aufenthalt beispielsweise in Havanna, oder den längeren Kurzstrecken wie zu den Kanaren. Für die Crews war er da natürlich auch der Chef, weniger der Kollege. Heute, wo Kistler sein Amt als CEO von Edelweiss abgegeben hat und hofft, noch gut zwei Jahre bis zu seinem 65. Geburtstag weiter zu fliegen – in Teilzeit, 70 Prozent –, sei es ein schönes Gefühl, dass die Mitarbeiter gerne mit ihm fliegen, auch wenn er nicht mehr der Chef ist. Das sei, sagt er zufrieden, auch eine Form der Wertschätzung. Womit er wieder beim Thema ist – Aufmerksamkeit, Freundlichkeit, das Little Extra, die Wertschätzung des anderen, ganz einfach die Unternehmenskultur, die er mit seinen Leuten geschaffen hat und die die kleine Airline inmitten starker Konkurrenz profitabel fliegen lässt.

Ruhe und Kraft fand und findet Kistler in seiner Freizeit. Da hat er wieder gebaut, diesmal jedoch keine Modellflugzeuge, sondern richtige Experimentals. Eine Kitfox 3 nahm neun Jahre in Anspruch, ein CH-7 Kompress Charlie war nach fünf Jahren zusammengebaut – die Lizenz für‘s Helikopterfliegen inklusive.

Selbst das übrigens, was Kistler um ein Haar der Fliegerei entrissen hätte – nämlich die frühe Bekanntschaft mit dem Kunstflug – gehörte zu den Themen, die Kistler während seines Berufslebens als Fluglehrer lehren durfte; oder musste. Er hat das gemacht, sagt er, aber nie mit großer Liebe. Dem Kunstflug sagt er, schaut er lieber zu. Oder fliegt die Figuren selbst. Nur mitfliegen, das ist bis heute nicht sein Ding.

Brigitte Rothfischer