In Amerikas schlimmstem Wetter: Drei Wege auf den Mount Washington

28.06.2016 Nach ihrem ersten Präsidenten George Washington haben die Amerikaner alles Mögliche benannt: ihre Hauptstadt, einen Bundesstaat und auch einen Berg in Neuengland. Er ist ein Touristenziel ersten Ranges – mit seinem extremen Wetter aber auch ein gefährlicher Ort. Gorham (dpa/tmn) – Direkt vor dem Gipfelzeichen: Turnschuhe. In der Warteschlange dahinter: Sneaker, Ballerinas und Sandalen. […]
28.06.2016
Nach ihrem ersten Präsidenten George Washington haben die Amerikaner alles Mögliche benannt: ihre Hauptstadt, einen Bundesstaat und auch einen Berg in Neuengland. Er ist ein Touristenziel ersten Ranges – mit seinem extremen Wetter aber auch ein gefährlicher Ort.
Gorham (dpa/tmn) – Direkt vor dem Gipfelzeichen: Turnschuhe. In der Warteschlange dahinter: Sneaker, Ballerinas und Sandalen. Sogar Flipflops sind zu sehen, nur selten reihen sich schwere Bergstiefel ein. Wer den Menschen auf die Füße schaut, die sich ganz oben auf dem Mount Washington fotografieren lassen möchten, bekommt einen ganz guten Eindruck davon, wie zugänglich dieser höchste Berg im Nordosten der USA schon seit vielen Jahren ist. Die Mehrzahl der Besucher erreicht den 1917 Meter hoch gelegenen Gipfel bequem mit dem Auto oder mit der Zahnradbahn. Die Wanderer sind klar in der Minderheit.
Im Sommer ist das Gedrängel oft groß vor der kleinen Steinpyramide am Gipfel. Bei Sonnenschein vergisst man zwischen den vielen Menschen in T-Shirts und eleganten Windjacken leicht, wo man hier ist: in einer der gefährlichsten Wetterzonen Nordamerikas. Fast jeder Wanderer allerdings hat unterwegs das gelbe Schild am Wegesrand gesehen: «Das Gelände voraus hat das schlimmste Wetter Amerikas. Viele sind dort an Unterkühlung gestorben, auch im Sommer. Dreht um bei schlechtem Wetter», warnt darauf der US Forest Service.
Die Warnung ist absolut ernst gemeint, und sie hat ihre Gründe. Der Mount Washington, der mit seinen nicht einmal 2000 Höhenmetern in den Alpen keine große Rolle spielen würde, ist ein Berg der Extreme. Er ist nicht nur der höchste der White Mountains in New Hampshire, sondern auch ein besonders windiger und kalter Ort. Im Januar 1934 wurden minus 43,9 Grad Celsius gemessen. Und vom 12. April desselben Jahres an bis 1996 hielt der Mount Washington den Weltrekord bei der Windgeschwindigkeit: Mit 231 Meilen pro Stunde – das sind mehr als 376 Kilometer pro Stunde – tobte der Sturm damals um den Gipfel.
«Die White Mountains sind von Nordosten nach Südwesten ausgerichtet, der Wind kommt aber meist von Nordwesten und prallt direkt auf die Berge», erklärt Kaitlyn O’Brien den Grund für das extreme Wetter. Die junge Frau hat bis Anfang 2016 im Mount Washington Observatory am Gipfel gearbeitet, wo rund um die Uhr das Wetter beobachtet wird. «Es gibt hier viele starke Böen, die machen es so unberechenbar.» Und auch der oft geringe Luftdruck in der Region spielt eine Rolle.
Dass der Berg den Windstärken-Weltrekord vor gut 20 Jahren an eine Wetterboje vor der Küste Westaustraliens verloren hat, akzeptiert O’Brien nur mühsam: «Okay, unser Rekord wurde während eines Zyklons übertroffen», sagt sie. «Aber bei uns waren Menschen anwesend, als der Wind so schnell war, nicht nur ein automatisches Messsystem!»
Das Observatorium bietet am Gipfel meteorologische Workshops an, auf geführten Touren lässt sich die Wetterstation besichtigen. Auch sonst gibt es am Gipfel einiges zu erleben. Das Gebäude, in dem der Wetterbeobachter Salvatore Pagliuca einst die 376 km/h schnelle Böe vom Windmesser ablas, ist heute ein Souvenirshop voller Kaffeetassen und T-Shirts. Und in dem bereits 1853 errichteten und bis 1968 als Unterkunft genutzten Tip Top House sind alte Fotografien zu sehen.
Das vom Staat New Hampshire am Gipfel betriebene Besucherzentrum im Baustil der 1970er Jahre bietet nicht nur eine Cafeteria, sondern auch ein kleines Museum zu den Wetterextremen. Eine Plakette an der Wand nennt die Namen von mehr als 150 Menschen, die seit dem Jahr 1849 Kälte, Wind und Wetterumstürze in der Presidential Range der White Mountains nicht überlebt haben. 16 Tote gab es allein in den Jahren 2000 bis 2010. «Keiner von ihnen wollte hier sterben», heißt es dort. «Aber einige haben dumme Sachen gemacht, die zu tödlichen Unfällen geführt haben.» Es ist noch Platz auf der Liste.
Etwa 280 000 Menschen stehen jedes Jahr am Gipfel, fast alle in der Sommersaison von Mitte Mai bis Oktober. Die meisten fahren mit dem Auto hinauf, auch Motorradtouren sind beliebt auf der 12,2 Kilometer langen Route mit durchschnittlich 11,6 Prozent Steigung, die bereits 1861 an der Ostflanke des Mount Washington gebaut worden ist.
Die Betreiber vermarkten die Mount Washington Auto Road als «Amerikas älteste von Menschen gebaute Attraktion» und kassieren 29 Dollar (25,10 Euro) pro Auto samt Fahrer. Für weitere Passagiere werden je nach Alter 7 bis 9 Dollar fällig. Gut 30 Minuten dauert die Reise durch vier Vegetationsstufen – vom Mischwald über borealen Nadelwald bis hinein in die alpine Zone. Wer nicht selbst an den steilen Abhängen vorbeisteuern möchte, kann sich in zweistündigen Touren für 36 Dollar (32,40 Euro) hinauf- und herunterfahren lassen.
Ein zweiter Weg, am Mount Washington ohne große Anstrengung bis nach ganz oben zu kommen, ist die auch schon seit dem Jahr 1868 betriebene Zahnradbahn. Die Cog Railway nähert sich dem Gipfel von Westen. Ihre Talstation liegt 8,5 Kilometer entfernt vom berühmten, historischen «Mount Washington Hotel», in dem im Jahr 1944 in der Konferenz von Bretton Woods einst das internationale Finanz- und Währungssystem neu organisiert wurde. 69 Dollar (62 Euro) zahlen Erwachsene für die dreistündige Zahnradbahntour. Kommt eine der alten Dampflokomotiven zum Einsatz, kostet es 6 Dollar Aufschlag.
Wer den Zug besteigt, der sich ratternd und schnaufend in Bewegung setzt, oder wer die Autofahrt antritt, weiß nicht unbedingt, welche Bedingungen ihn am Gipfel erwarten. Es kann passieren, dass der Berg plötzlich in den Wolken hängt, während im Tal die Sonne scheint. Den Gipfel von unten nicht zu sehen, muss dagegen nicht heißen, dass sich die Fahrt nicht lohnt: «Manchmal kann man vom Mount Washington bis zum Atlantik schauen, aber nicht 300 Meter nach unten. Jeder Tag ist anders», erklärt Dan Houde von der Mount Washington Auto Road.
Die dritte Art, den Mount Washington zu erklimmen, kostet viel Kraft und dauert am längsten, sie ist aber auch die schönste: zu Fuß. Schon 1819 wurde der Crawford Path genutzt, der am Highland Center des Appalachian Mountain Club (AMC) in Crawford Notch beginnt und von Südwesten auf den Gipfel führt. Der US Forest Service rühmt ihn als «ältesten, kontinuierlich genutzten Bergweg Amerikas». Wer ihn geht, ist zumindest für kurze Zeit auch auf dem 3517 Kilometer langen Appalachian Trail unterwegs, der Neuengland mit Georgia in den US-Südstaaten verbindet – und der über den Mount Washington führt.
Auf der Ostseite des Berges wird der Tuckerman Ravine Trail von Wanderern stark genutzt. Wer früh am Morgen in Gorham startet und sehr viel Ausdauer mitbringt, kann bei gutem Wetter auch die etwa 30 Kilometer lange Presidential Range von Norden nach Süden komplett durchqueren und noch einige weitere nach US-Präsidenten wie Adams, Jefferson, Pierce oder Eisenhower benannten Berge bezwingen. Von Südwesten schließlich führt der Ammonoosuc Ravine Trail auf den Mount Washington, die Zahnradbahn-Talstation ist ihr Ausgangspunkt.
Oft ist der Aufstieg hier sehr steil, gefährlich wird es aber an keiner Stelle. Vorbei geht es an kleinen Wasserfällen, weit reicht der Blick vom Trail in Richtung Westen. Bald ist die Baumgrenze erreicht – nirgendwo auf der Welt liegt sie in diesen Breitengraden so tief wie in New Hampshire. Etwas oberhalb duckt sich die «Lake of the Clouds»-Hütte des AMC in den Sattel zwischen Mount Eisenhower und Mount Washington. Von hier aus führt der schattenlose Weg über Geröll zum höchsten Punkt der White Mountains. Gut eine Stunde dauert es, bis sich die Wanderer mit ihrem schweren Schuhwerk in die Warteschlange der Sneaker-Träger einreihen: Gipfelfoto – geschafft!
Zurück ins Tal zu laufen, wäre jetzt machbar, aber auch schon wieder ein kleiner Kraftakt. Also: Übernachten in der AMC-Hütte, was mit 131 Dollar (118 Euro) für Nicht-Clubmitglieder aber kein Schnäppchen ist. Dafür gibt es Abendessen, Frühstück, einen Platz im Schlafsaal und die Unterhaltung durch die zehnköpfige Hüttencrew aus Studenten, die ihren Ferienjob mit viel Witz und Begeisterung erledigen. Die sogenannten Bunkhouses mit jeweils 15 Kojen werden nicht geheizt, Wolldecken und Kopfkissen liegen bereit. Im mitgebrachten Schlafsack Skiunterwäsche zu tragen, ist auch im Sommer eine gute Idee.
Abends sitzen etwa 60 Wanderer bei Graupensuppe mit Champignons, überbackenem Rinderhacksteak und Schokoladenkuchen auf den hölzernen Bänken. Schnell kommt man ins Gespräch und vereinbart, später noch gemeinsam die Wanderkarte zu studieren oder Schach zu spielen, bevor um 21.30 Uhr das Licht ausgeschaltet wird. Viele bringen daher ihre Stirnlampe schon zum Dinner mit. Während des Essens schlägt draußen das Wetter um, plötzlich ist die Hütte von Nebel umhüllt und mitten in den Wolken. Starker Regen setzt ein, der die ganze Nacht bleibt und auch noch gegen das Schlafsaalfenster peitscht, als um 6.30 Uhr zum Frühstück geweckt wird. Die Hüttencrew nimmt es mit Humor und stimmt auf dem Flur «You are my sunshine, my only sunshine» an.
Bei Haferbrei, Pancakes, Rührei, Speck und dampfendem Kaffee liest Crewchef Peter Christoffersen um 7.15 Uhr den Wetterbericht vor. Es bleibt regnerisch und windig, die Sicht reicht keine 20 Meter weit. Niemand plant nun einen schnellen Aufbruch, vom «schlimmsten Wetter Amerikas» draußen kann dennoch zumindest heute nicht die Rede sein.
Für die meisten Wanderer geht es zurück ins Tal – schön vorsichtig über schmale Pfade. Aber bald ist die Baumgrenze erreicht, weiter unten scheint sogar die Sonne. Andere brechen gegen 9.00 Uhr auf zum Gipfel und werden sich später dort in die Warteschlange vor der Steinpyramide einreihen. Ob bei Sonne oder Regen, lässt sich schwer vorhersagen. Der Mount Washington verrät es nicht – er ist von der Hütte aus durch die schwere Wolkendecke mal wieder nicht zu sehen.
Christian Röwekamp, dpa
Info-Kasten: Mount Washington
Anreise: Lufthansa fliegt nonstop von Frankfurt/Main und München aus nach Boston. Die Autofahrt von Neuenglands Metropole in die White Mountains (etwa 260 Kilometer) dauert vier Stunden. Die Fahrtstrecke kann ungefähr halbieren, wer nach seiner Atlantiküberquerung zum Beispiel von New York, Philadelphia oder Detroit per Anschlussflug nach Portland in Maine reist und erst dort in den Mietwagen steigt. Portland fliegen unter anderem United, Delta und US Airways an.
Einreise: Deutsche Urlauber brauchen kein Visum, müssen sich unter https://esta.cbp.dhs.gov aber eine elektronische Einreiseerlaubnis besorgen (Esta). Sie kostet 14 US-Dollar und gilt zwei Jahre lang.
Klima und Reisezeit: Wandersaison ist von Ende Mai bis Mitte Oktober. Die «Lake of the Clouds»-Hütte des AMC ist nur bis Mitte September bewirtschaftet. Von Juni bis August erreichen die Temperaturen am Gipfel des Mount Washington im Schnitt 7 bis 9,5 Grad, nur selten werden dort zweistellige Celsius-Werte erreicht. Ins Reisegepäck gehört auch im Sommer warme Kleidung ebenso wie Shorts und T-Shirts.
Geld: Für einen Euro gibt es etwa 1,1 US-Dollar (Stand: Juni 2016). Das Bezahlen mit Kreditkarten wird fast überall akzeptiert.
Informationen: Discover New England, c/o Get It Across Marketing, Neumarkt 33, 50667 Köln (Tel.: +49 221 47671211, Mail: discovernewengland@getitacross.de, Internet: www.neuenglandusa.de).