Selbst erfahrene Piloten können mit Situationen konfrontiert werden, die in keinem Handbuch vorkommen. Passiert das in einer Lage, die ohnehin schon durch andere Umstände schwierig ist, wird ein korrektes Reagieren fast unmöglich. Wer rechnet schon damit, dass bei einer Nachtlandung plötzlich alle Lichter am Boden erlöschen?

Der Aeropuorto de Girona-Costa Brava im äußersten Nordosten Spaniens lebt vor allem vom Sommergeschäft: Gerade aus Großbritannien fliegen Touristen ein, die es zu den nur eine halbe Autostunde entfernten Stränden von Lloret de Mar oder Malgrat de Mar zieht. Es war Dienstag, der 14. September 1999, als sich 236 Passagiere auf dem Flughafen Cardiff in Wales auf den Weg machten, die spätsommerliche Wärme an Kataloniens Küsten zu geniessen.

Flug BY 226A von Thomson Travel startet um 20.40 Uhr

Der Reiseveranstalter Thomson Travel, heute Teil von TUI, setzte dazu eine Boeing 757-200 seiner Tochtergesellschaft Britannia Airways ein. Flug BY 226A startete in der Abenddämmerung um 20.40 Uhr in Cardiff, ließ Südengland hinter sich und düste über der Normandie der Nacht entgegen. Kommandiert wurde die 6,5 Jahre alte Boeing, die das Kennzeichen G-BYAG trug, von Kapitän Brendan Nolan. Er war mit seinen 57 Jahren einer der erfahrensten Piloten bei Britannia und konnte auf 16 700 Flugstunden zurückblicken, 3562 davon auf der 757. Der mit 33 Jahren deutlich jüngere Copilot, dessen Name nicht öffentlich wurde, saß ihm auf diesem 80-Minütigen Flug zur Seite. Er hatte 1494 Flugstunden, davon den Großteil auf Boeing 757. Flug 226A nach Girona war der letzte von drei gemeinsamen Nachtflügen hintereinander.

Nachdem Bugrad und rechtes Hauptfahrwerk kollabierten, kam der Urlauberjet von der Piste ab und schoss über unebenes Gelände einen Abhang herunter bis auf eine Wiese. Bild: Foto: CIAIAC

Bereits vor dem Abflug erfuhren die Piloten, dass das Wetter an ihrem Ziel alles andere als ideal sein würde. Eine über Südfrankreich liegende Kaltfront sorgte südlich der Pyrenäen für Gewitterbildung. Die Crew leitete noch über Südfrankreich den Sinkflug ein. Das Wetter verschlechterte sich zusehends. Kapitän Nolan plante, im Fall eines Fehlanflugverfahrens zum nahen Ausweichflugplatz Barcelona zu fliegen, wo gutes Wetter herrschte.

Flug BY 226A: Hohe Sinkrate nach den Pyrenäen

Gleich nach Passieren der östlichen Pyrenäen wurde der Sinkflug mit einer recht hohen Sinkrate fortgesetzt. Um nicht zu schnell zu werden, fuhr die Besatzung die Luftbremsen an den Tragflächenoberseiten aus. Die Ausläufer der Gewitter machten sich jetzt bemerkbar. Es wurde unruhiger, die Anschnallzeichen leuchteten auf und der Copilot kündigte turbulentes Wetter an. Er wies darauf hin, unbedingt bis zur Landung angeschnallt zu bleiben. Mehrere Maschinen vor der 757 waren bereits nach Barcelona ausgewichen. Die Fluglotsin schlug einen ILS-Anflug von Norden her auf die Piste 20 vor, da sich die Hauptaktivität der Unwetter südwestlich des Flughafens abspielte. Doch Kapitän Nolan zog aufgrund der Windsituation und der in dieser Richtung ansteigenden Landebahn die entgegengesetzte Piste 02 vor.

Der Treibstoff wird knapp

Der Sinkflug wurde so holperig, dass die Anflugkarte, die sich Kapitän Nolan auf seine Steuersäule geklemmt hatte, löste und herunterfiel. Sein Copilot musste ihm die Anflugdaten vorlesen. Es war 23.29 Uhr, als Flug BY 226A die Anflughöhe von 3400 Fuß erreichte. Die Maschine flog etwa acht Kilometer Richtung Süden am Flugplatz vorbei und kurvte dann wieder nach Norden auf den Landekurs von 17 Grad. Die aktualisierten Wetterdaten machten wenig Mut: „Die Sicht ist bei 4000 Metern, aufgelockerte Bewölkung in 1500 Fuß über Grund, geringe Bewölkung in 3000 Fuß, Gewitterwolken in 4500 Fuß. Ein Gewitter steht über dem Flugplatz“, hieß es von der Flugsicherung.

Die letzte Sekunden des Flugs BY 226A nach dem Stromausfall am Airport zeigen, wie die Maschine von der Bahn abkam und das Flughafengelände verließ. Bild: Foto: GoogleEarth | JACDEC

Nolan überprüfte die Restkraftstoffmenge, die bei 3600 Kilogramm lag. Das von der Airline vorgegebene Minimum lag bei 2800 Kilogramm. Um 23.36 Uhr, als sich die 757 in voller Landekonfiguration im Endanflug befand, erhielten die Piloten in etwa 100 Meter Höhe über dem Boden Sichtkontakt zu den Lichtern der Landebahn. Nolan erkannte sofort, dass man sich ein gutes Stück neben der Pistenachse befand und beschloss, den Landeanflug abzubrechen. Zudem hatte die Lotsin gerade eine Winddrehung von Nord auf Südwest durchgegeben, sodass auf der Piste 02 nun deutlicher Rückenwind herrschte. Bei einer Pistenlänge von nur 2400 Metern war das ein unnötiges Sicherheitsrisiko, dass Nolan nicht eingehen wollte.

Die Grafik zeigt die Lage der Rumpfteile nach dem Crash. Farbig codiert ist, welche Notausgänge von den Passagieren im Durcheinander der zerstörten Kabine genutzt wurden. Bild: Foto: GoogleEarth | JACDEC

(Fast) optimale Windrichtung für einen Urlaub

Da der Anflug über das ILS aus Norden ruhiger zu werden versprach und die Boeing fast optimal zur Windrichtung ausgerichtet sein würde, beschloss Nolan, einen zweiten Landeanflug auf die Bahn 20 zu versuchen. So wurde sein ursprünglicher Plan verworfen, nach Barcelona auszuweichen. In einer weiten Schleife im Norden drehte der Urlauberjet und kam um 23.44 Uhr auf den Funkleitstrahl des Instrumenten-Landesystems (ILS) der Piste 20, der den Flug bis zur Landebahn führte. Derweil blinkte bereits das „Low Pressure“-Warnlicht einer Treibstoffpumpe, als die Kerosinreserven nur noch 3100 Kilogramm betrugen. Nolan berechnete, dass man im Fall eines erneuten Durchstartens wohl etwa 200 Kilogramm unterhalb des Minimums in Barcelona ankommen würde.

Während er den großen Jet zur Landung bereitmachte, die Landeklappen auf 30 Grad und das Fahrwerk ganz ausfuhr, überwachte der Copilot die Instrumente. Um 23.46 Uhr meldete der Kapitän: „Lichter in Sicht.“ Die Lotsin im Tower funkte zurück, man habe nun das Flugzeug in Sicht.

Bei Tageslicht wird die Zerstörung sichtbar. Die Unfallbehörde hat auf dem Foto die Kennung unkenntlich gemacht. Bild: Foto: CIAIAC

Der Wind blies schwach aus Südost, als Nolan den Autopiloten und die automatische Schubkontrolle (Autothrottle) abschaltete. Nun flog er die 757 die letzte Meile per Hand. Nichts schien einer sicheren Landung im Weg zu stehen. Dann wich die Flugbahn der Boeing nach oben über den vorgesehehen Gleitweg ab. In den nächsten Sekunden überschlugen sich die Ereignisse im Cockpit. Der Copilot rief: „voll drüber, flieg tiefer“. In einer reflexartigen Bewegung drückte Kapitän Nolan seine Steuersäule fast bis zum Anschlag nach vorn, zog sie dann einen Moment später auf eine neutrale Position zurück. Die Flugzeug-Längsachse neigte sich kurzzeitig auf minus 4,5 Grad nach vorn, die Sinkrate schnellte auf 1000 Fuß pro Minute.

Alle Lichter gehen aus!

Exakt in diesem Augenblick fiel am Flughafen Girona der Strom aus. Wo eben noch die Anflugbefeuerung des Flughafens leuchtete, war nichts anderes als pechschwarze Nacht. Nolan war wie gelähmt. Weder er noch sein Copilot, der ebenfalls einen Go-around hätte einleiten können, reagierten. Es ging alles viel zu schnell. „Sink rate, sink rate!“ dröhnte die Warnung des Bodenannäherungs-Warngeräts in den Kopfhörern. „Ten“ war die letzte automatische Ansage der Bordcomputer. Es war die Computerstimme, die die Flughöhe in Fuß über der Landebahn ausrief: Zehn Fuß entsprechen drei Metern.

Nolan zog die Triebwerkshebel auf Leerlauf zurück, direkt danach prallte die Maschine mit einer enormen Wucht von 3,1 g auf die Landebahn. Die Boeing sprang für Sekunden in die Luft zurück. Der Triebwerksschub wurde erhöht und gleichzeitig die Nase nach unten gedrückt. Spoiler und Schubumkehr blieben inaktiv. Der zweite Bodenkontakt erfolgte mit dem Bugrad zuerst und war noch heftiger als der erste. Die Rumpfstruktur oberhalb des Fahrwerkschachts gab nach. Im gesamten Flugzeug erlosch die Beleuchtung. Gleichzeitig kollabierte das rechte Fahrwerk, was den Jet nach rechts kippen ließ.

Starke Beschädigungen, Bremsfähigkeit kaum vorhanden

Das Bugrad hatte den mit Bordcomputern vollgestopften Bereich unterhalb des Cockpits stark beschädigt. Einige der Steuerleitungen zur Schubkontrolle der Triebwerke wurden hierdurch gekappt. Die Folge war, dass die Triebwerke mit hoher Leistung weiterliefen und somit ein Abbremsen des Flugzeugs deutlich erschwert wurde.

Sitzreihen, Gepäckfächer und Verkleidungen haben sich in der Kabine losgerissen, was die Evakuierung der Passagiere erschwerte. Bild: Foto: CIAIAC

Abgerutscht in die Dunkelheit

Das rechte Triebwerk schürfte über die Piste und zog Flug BY 226A unaufhaltsam nach rechts. Die Towerlotsin gab Crash-Alarm; gleichzeitig versuchte Kapitän Nolan den immer noch 130 Knoten schnellen Passagierjet abzubremsen. Etwa 1000 Meter nach dem zweiten Aufprall verliess die 757 die Piste in die Dunkelheit hinein. Das Gelände neben der Landebahn ist leicht abschüssig, so driftete die Maschine seitwärts, pflügte einige Bäume um, hob für eine Sekunde erneut vom Boden ab und durchbrach den Flughafenzaun, ehe Flug BY 226A auf einem angrenzenden Acker endete. Auf diesen letzten hundert Metern verlor Kapitän Nolan das Bewusstsein, als er aus seinem Sitz geschleudert wurde und mit dem Kopf gegen die seitliche Cockpitscheibe prallte.

Die Kräfte des Unfalls haben im Cockpit ein Durcheinander verursacht. Kapitän Nolan verletzte sich den Kopf an einem der Fensterholme. Bild: Foto: CIAIAC

Die stolze Boeing 757 lag in drei Teile zerschmettert auf einem Acker in völliger Dunkelheit. Die Lichter des Flughafens funktionierten mittlerweile wieder, der Unglücksort lag aber unterhalb des Pistenniveaus und war daher vom Flughafen kaum einsehbar. Während Nolan langsam wieder zu sich kam, schaltete der Copilot alle Systeme ab, was ihm aufgrund der Dunkelheit nur schwer gelang. Die Evakuierung der Insassen verlief über vier der sechs Türen. Drei Notrutschen bliesen sich auf. Aus der vorderen linken Passagiertür L1 sprangen die Passagiere bis Reihe 9 in den strömenden Regen, der draußen fiel.

Warten auf die Retter

Aufgrund des Stromausfalls versagte die Alarmleitung zwischen Tower und Flughafenfeuerwehr. Das Alarmsignal blieb stumm, so musste die Lotsin per Telefonleitung den Rettungseinsatz in Gang setzen. Die blinkende Armada fuhr die Landebahn auf und ab, entdeckten aber nirgends ein Zeichen der verunglückten Maschine, die etwa 150 Meter neben der Piste in der Dunkelheit lag. Ein Passagier machte sich auf und trabte den Feldweg hoch zur Landebahn, joggte über das Vorfeld und benachrichtigte einen Flughafenmitarbeiter über die Unglücksstelle. Erst jetzt, 18 Minuten nach dem Unfall kamen die ersten Einsatzkräfte zum Ort des Geschehens. Es dauerte schließlich mehr als eine Stunde, bis alle an Bord vom Unfallort evakuiert und in Sicherheit waren.

Flug BY 226A: 244 Verunglückte überleben – einer ist tot

Alle 236 Passagiere und die neun Crewmitglieder hatten den Unfall überlebt. Zwei Schwer- und 42 Leichtverletzte waren die Bilanz dieser Nacht. Aufgrund unentdeckt gebliebener innerer Verletzungen verstarb allerdings ein Passagier fünf Tage nach dem Unfall in Girona. Die spanische Flugunfallbehörde CIAIAC kam letztendlich zu dem Schluss, dass es Kapitän Nolan versäumte, rechtzeitig ein Durchstarten einzuleiten, als er den Sichtkontakt zur Landebahn in einer kritischen Flugphase verlor. Ursächlich hierfür war unter anderem eine mentale Überforderung durch die verschwundene Landebahn, die weder zu erwarten noch
je trainiert worden war. Zudem wurde die Ansage der Höhe unmittelbar vor dem Aufsetzen durch die Warnung „Sink rate“ ausgeblendet. So entgingen Kapitän Nolan womöglich wichtige Informationen, um den Aufprall auf der Piste doch noch abzumildern.

Die CIAIAC mahnte ein intensiveres Pilotentraining bei Durchstartverfahren an. Zudem wurde angeregt, die Platzwettervorhersagen in Girona zu optimieren und das Design der Flugzeugkabinen resistenter zu machen, sodass sich im Falle einer Havarie wie der in Girona keine ganzen Sitzreihen oder die Gepäckfächer lösen können. Zudem sollten auch die Schultergurte der Piloten und die Notstromversorgung an Bord verbessert werden.

Text: Jan-Arwed Richter