Der Absturz einer nagelneuen Boeing 737 MAX der Lion Air am 29. Oktober über der Javasee ist noch nicht aufgeklärt. Vieles deutet darauf hin, dass der Anstellwinkel eine Rolle gespielt hat. Doch was ist das eigentlich genau?

Als Angle of Attack bezeichnet man in der Aerodynamik den Winkel, in dem die Luft auf die Tragfläche trifft. Genauer: der Winkel zwischen anströmender Luft und Tragflächen-Profilsehne. Auf Deutsch heißt er Anstellwinkel, abgekürzt wird er aus dem Englischen mit AOA oder mit dem griechischen Symbol α. Je größer der AOA, desto höher der Auftrieb eines Flügels – bis zum Erreichen des kritischen Anstellwinkels, bei dem sich die Strömung verwirbelt vom Flügel abzulösen beginnt. Bei vielen Flugzeugtypen liegt dieser kritische AOA zwischen 15 und 20 Grad.

Wird der Winkel noch weiter erhöht, reißt die Strömung ganz ab, der Auftrieb bricht zusammen, das Flugzeug gerät in einen überzogenen Flugzustand, auf Englisch stall. Im Idealfall senkt sich dann die Nase, die Maschine nimmt wieder Fahrt auf, der Anstellwinkel passt wieder. Es kann aber auch zum Abkippen zur Seite kommen. 
Flugschüler lernen in der Ausbildung früh, den stall zu erkennen, durch beherzte Eingabe von Höhenruder und Gas den Anstellwinkel zu verkleinern und wieder einen stabilen Flugzustand herzustellen.

Kritischer Angle of Attack (AOA) abhängig vom Flugzeugtyp

Man sollte meinen, ein so wichtiger Wert würde fett in jedem Cockpit angezeigt. Allerdings geraten Passagierflugzeuge normalerweise nur selten in die Nähe des kritischen AOA. Kampfflugzeuge dagegen haben eine Anstellwinkel-Anzeige, die im Luftkampf die aktuelle Auftriebssituation meldet. Zwar haben auch Airliner Metallwinkel am Rumpf, die sich wie Wetterfahnen im Luftstrom drehen und so den Anstellwinkel messen. Die Werte landen aber bei vielen Jets unsichtbar im Air-Data-Rechner, wo sie mit Geschwindigkeit- und Luftdruckdaten zu Cockpitanzeigen, Fly-by-wire-Schutzfunktionen und Langsamflug-Warnungen weiterverarbeitet werden.

Die Sensoren sind an der Rumpfseitenwand montiert. Zur Redundanz sind sie mehrfach vorhanden (Foto: Rolf Stünkel)

Eine direkte Anzeige gibt es zum Beispiel bei einigen Boeing-Varianten und Businessjets auf dem Primary Flight Display oder dem Head Up-Display.
 Bei Airbus-Flugzeugen, deren Flight Envelope Protection automatisch die Betriebsgrenzen überwacht, taucht der AOA in abgewandelter Form auf. Auf der Geschwindigkeits-Skala links vom Künstlichen Horizont sitzt im unteren Geschwindigkeitsbereich ein gelbschwarz gestreiftes Band, das vom AOA-Sensor stammt und den Schutzbereich markiert.

„Alpha MAX“ als höchstmöglicher Anstellwinkel

Die obere Kante, „Alpha Prot“, löst die Schutzfunktion aus; die untere, „Alpha MAX“, zeigt den höchstmöglichen Anstellwinkel. Sinkt die Geschwindigkeit auf Alpha Prot, steuert die Schutzvorrichtung dagegen: mit eingeschränkter Trimmung (nur noch nach oben) und Schräglagen-Begrenzung wird unter anderem sichergestellt, dass der Anstellwinkel höchstens bis auf Alpha MAX weiter ansteigen kann. Greift der Pilot nicht ein, fliegt der Autopilot mit diesem Anstellwinkel das Flugzeug weiter. Fehlt Schub, gibt die Automatik Vollgas.

Im Normalbetrieb mag dies alles bestens funktionieren; das Flugzeug fliegt dank Fly-by-wire und Flight Envelope Protection theoretisch nie in einen Strömungsabriss. Selbst bei Teilausfall der Systeme arbeiten die Schutzsysteme eingeschränkt weiter, selbst im einfachsten Betriebszustand ertönt noch eine laute Stall-Warnung. Solange die AOA-Anzeige funktioniert, erscheinen auch die Markierungen für Alpha Prot und Alpha MAX.

Vibrieren vor dem Stall

Zu den „Abfallprodukten“ eines Anstellwinkelsensors in diversen Flugzeugtypen zählen auch der Stick-Shaker, der vor einem drohenden Strömungsabriss das Steuerhorn vibrieren lässt, um den Piloten zu warnen; ebenso eine Anzeige der maximal erlaubten Längsneigung, die sogenannte Pitch-Limit-Anzeige auf dem Primary Flight Display direkt im Blickfeld des Piloten.

Doch auch in neuesten High-Tech-Fliegern ist nicht garantiert, dass die Anzeigen und Schutzvorrichtungen jederzeit funktionieren. Was ausfallen kann, fällt vermutlich irgendwann aus. So können die Sensoren beschädigt werden oder vereisen, wenn die eingebaute Heizung versagt. Es sind sogar schon Flugzeuge verunglückt, weil die Sensoren vor einer Wäsche abgeklebt wurden und die Abklebung dann nicht entfernt wurde. Selbst der cleverste Algorithmus im Bordcomputer kann fehlerhafte Sensoren und Anzeigen nicht immer identifizieren.

Schnelles Handeln nötig

Die Crew muss in solchen Fällen schnell reagieren, den „Übeltäter“ erkennen und abschalten, um ein sinnvolles Lagebild wiederherzustellen – sofern noch Zeit dafür ist. Dies im Zweifelsfall genau im ungünstigsten Moment, bei Nacht und Nebel, begleitet von akustischen (Falsch-)Warnungen, aufblinkenden Lämpchen und Bildschirmnachrichten.

Die Multifunction Probes messen neben dem Anstellwinkel auch die Geschwindigkeit (Foto: Rolf Stünkel)

Dass defekte Sensoren fatale Folgen haben können, zeigte sich in der Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni 2009. Die Besatzung des Air-France-Flugs 447 verlor durch falsche Geschwindigkeitsanzeigen über dem Südatlantik die Kontrolle über ihren ansonsten völlig intakten Airbus A330-200. Es gelang nicht, das Flugzeug aus dem Sinkflug abzufangen; alle Insassen des Flugs starben beim Aufprall auf dem Wasser.
Abgesehen von der erschreckenden Tatsache, dass der Airbus im Strömungsabriss mit extremen Anstellwinkeln jenseits von 40 Grad dem Wasser entgegengerast war, erbrachte die Untersuchung nur wenige neue Erkenntnisse.

31. Mai 2009: Air France Flug 447

Die Komplexität der Schutzfunktionen moderner Jets war seit langem bekannt; Piloten sind sich der latenten Risiken bewusst, bei Fehlfunktionen von Sensoren und Computern möglicherweise gerade durch diese eigentlich als Schutz gedachten Mechanismen in Lebensgefahr zu geraten. Der Unfall zeigte aber erhöhten Trainingsbedarf: Bei aller Anfangsverwirrung muss die Crew zügig in die ersten Notverfahren einsteigen und auch in einer unübersichtlichen, scheinbar verfahren Situation schnell und einfach einen sicheren Flugzustand wiederherstellen können.
Heute werden aus diesen Gründen wieder bewährte Grundlagen der Stick-and-Rudder-Fliegerei geschult.

Große, träge Verkehrsflugzeuge fliegt man nicht mit dem Hintern; alle Infos erscheinen auf 
Bildschirmen. Und doch gibt es grobe Richtwerte für „Pitch und Power“ in den Standard-Flugsituationen: eine Kombination von Fluglage und Triebwerksleistung, die zu einem bestimmten Flugzustand passt. Solche Infos sind weniger von äußeren Sensoren abhängig und können trainiert werden. Richtiges Handeln lässt so den großen Flieger in den sicheren Flugbereich zurückkehren. Ein Wert wird dann im grünen Bereich sein – der Angle of Attack, das Maß der Dinge für den Auftriebs seit den Gebrüdern Wright.

Text: Rolf Stünkel, AERO INTERNATIONAL 1/2019