21.07.2014 Für viele im Westen steht nach dem Absturz der Passagiermaschine in der Ostukraine der Schuldige seit Tagen fest: Wladimir Putin. Dabei beginnen die Ermittlungen gerade erst. Und der Ex-Geheimdienstchef warnt vor voreiligen Schlüssen. Moskau – Zu nächtlicher Stunde – um 1.40 Uhr Moskauer Zeit – meldet sich Kremlchef Wladimir Putin noch einmal zum rätselhaften Absturz […]

21.07.2014

Für viele im Westen steht nach dem Absturz der Passagiermaschine in der Ostukraine der Schuldige seit Tagen fest: Wladimir Putin. Dabei beginnen die Ermittlungen gerade erst. Und der Ex-Geheimdienstchef warnt vor voreiligen Schlüssen.

Moskau – Zu nächtlicher Stunde – um 1.40 Uhr Moskauer Zeit – meldet sich Kremlchef Wladimir Putin noch einmal zum rätselhaften Absturz der malaysischen Passagiermaschine MH17 zu Wort. Als ließen ihm die fast 300 Toten keine Ruhe – die unschuldigen Menschen im Konfliktgebiet Ostukraine, mutmaßlich von einer Rakete vom Himmel geholt.

Die in einem für Putin ungewöhnlichen Format als Videobotschaft veröffentlichte Rede kann der Ex-Geheimdienstchef wie im Schlaf. Er warnt vor voreiligen Schuldzuweisungen an die prorussischen Separatisten und fordert eine internationale Untersuchung. Vor allem will er verhindern, dass der mutmaßliche Abschuss weiter politisch instrumentalisiert werde. Trauern und Aufklären statt Hetze gegen Russland.

Der 61-Jährige dürfte die ungewöhnliche Stunde auch wegen des zuvor immer stärker gewachsenen Drucks gewählt haben. Australien warnt ihn vor einem Ausschluss vom G20-Gipfel im November, sollte Russland nicht aktiv auf die Separatisten einwirken und bei der Aufklärung der Katastrophe helfen. Deutschland, Frankreich und Großbritannien drohen der ohnehin von westlichen Sanktionen gebeutelten russischen Wirtschaft mit neuen Strafmaßnahmen.

Einige Beobachter wollen in dem nächtlichen Auftritt einen «verschreckten Putin» sehen, der Angst habe vor einer weiteren Konfrontation mit dem Westen. Sein Stil wäre das nicht. Demonstrativ besucht der Kremlchef dann am Montag ausgerechnet den Raketenbauer Progress in Samara und lobt die technische Stärke seines Landes.

Dabei prangte auf Titelseiten vieler Zeitungen weltweit mitunter Putins Name samt seinen Raketen – als der mögliche Schuldige für den Tod der Passagiere von Flug MH17. Der schon oft als Mörder Beschimpfte bleibt gelassen. Ruhig spricht er davon, die Verantwortung für den Todesflug liege bei der Ukraine.

Eine Verantwortung dafür, den Luftraum nicht geschlossen zu haben – trotz des Krieges. Immerhin hatten prorussische Separatisten dort schon vorher Flugzeuge abgeschossen. Der Kremlchef kritisiert seit Monaten, dass die ukrainische Regierung mit Luftwaffe und Panzern gegen Separatisten vorgeht – statt den Dialog zu suchen.

Auch ganz Russland rätselt nach der Katastrophe vom Donnerstag weiter darüber, wer die Boeing 777-200 abgeschossen hat: Die von Moskau unterstützten Separatisten? Oder doch die Ukrainer? Die kremltreue Boulevardzeitung «Komsomolskaja Prawda» («KP») stellt die im Reich der Verschwörungstheorien populäre Frage: «Wem nützte das?» Die Antwort ist klar. 

Die ukrainische Führung erreiche damit ihr Ziel, den Konflikt angesichts der vielen getöteten Ausländer zu internationalisieren. Sie könne nun Waffen oder sogar einen Militäreinsatz des Westens verlangen, heißt es etwa. Gelegen komme Kiew der Absturz zudem, um abzulenken von der schweren Lage eigener Soldaten, die zu Hunderten bei der «Anti-Terror-Operation» verletzt und getötet werden.

Dass die sonst für chaotische Zustände berüchtigte Ukraine die inzwischen kaum noch hinterfragte Version vom Abschuss schon kurz nach dem Absturz – noch dazu in mehreren Sprachen – verbreitete, wundert viele Russen seit Tagen. Es nährt auch Spekulationen, es könnte sich um eine inszenierte Aktion der Ukrainer handeln.

Zwar würden die USA und die Ukraine immer wieder von Bildbeweisen, Satellitenaufnahmen sprechen, aber öffentlich präsentiert seien die bisher nicht, schimpfen Kommentatoren. «Wir wissen auch nicht, was passiert ist», sagt hilflos der Chefredakteur Alexej Wenediktow vom Radiosender Echo Moskwy seinen Hörern. «Los, schweigen wir einfach!», rät die Zeitung «KP» ihren Lesern. Wer hier voreilig Schlüsse ziehe, müsse nachher auch die Konsequenzen dafür tragen.

Das Entsetzen ist auch bei vielen Russen groß, wie etwa die vielen Blumen an der niederländischen Botschaft in Moskau zeigen. «Verzeiht uns!» – steht dort auf vielen Notizen. Vor allem kremlkritische Bürger trauen dem Kreml und seinen Gefolgsleuten in der Ostukraine ein solches Verbrechen wie den Abschuss einer Passagiermaschine zu.

«Wir trauern», schreibt die regierungskritische «Nowaja Gaseta» über einem Foto von einer toten Frau. Sie liegt noch angegurtet am Flugzeugsitz mit dem Gesicht auf schwarzem Boden verbrannter Erde.

Der Militärexperte Pawel Felgenhauer fordert die russische Führung und die Separatisten auf, das Lügen zu beenden – und die eigene Schuld einzugestehen. Er erinnert daran, dass Moskau zuletzt zu Sowjetzeiten 1983 den Abschuss einer Boeing in ein «unheimliches Lügengespinst» verwickelt habe. 269 Menschen starben damals, als sowjetische Raketen eine koreanische Maschine durchbohrten.

Ulf Mauder, dpa