Gipfelruhe über dem Königssee – 40 Jahre Nationalpark Berchtesgaden Von Andreas Heimann, dpa
Der Nationalpark Berchtesgaden ist ein Touristenmagnet. Aber viele Besucher bekommen nur flüchtig mit, was er alles zu bieten hat. Wer das herausfinden möchte, muss hoch hinaus. Das kann wehtun, aber auch Glücksgefühle auslösen. Berchtesgaden (dpa/tmn) – Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung. Um halb acht sieht es in Schönau am Königssee schon anders […]
Der Nationalpark Berchtesgaden ist ein Touristenmagnet. Aber viele Besucher bekommen nur flüchtig mit, was er alles zu bieten hat. Wer das herausfinden möchte, muss hoch hinaus. Das kann wehtun, aber auch Glücksgefühle auslösen.
Berchtesgaden (dpa/tmn) – Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung. Um halb acht sieht es in Schönau am Königssee schon anders aus. Da ist die Schlange vor dem Ticketschalter für das erste Ausflugsschiff bereits lang, und später wird es noch schlimmer. Viele Touristen belassen es bei einem Törn zur Halbinsel St. Bartholomä mit ihrer kleinen Wallfahrtskirche. Für Hansi Stöckl geht es dort erst richtig los.
Stöckl ist Bergführer und will seiner Gruppe zeigen, was die meisten der rund 1,6 Millionen Besucher pro Jahr im Nationalpark Berchtesgaden nur flüchtig und aus der Froschperspektive mitbekommen: die alpine Natur im zweitältesten Nationalpark Deutschlands, der in diesem Sommer 40 Jahre alt wird. Deswegen ist die Wallfahrtskirche für Stöckl nur ein Zwischenstopp auf dem Weg ganz nach oben. Erstes Etappenziel: Kärlingerhaus und Funtensee.
Tiere, die viele nur aus Dokus im dritten Programm kennen, sind im 210 Quadratkilometer großen Nationalpark noch zu Hause: Mal ist ein Steinadler zu sehen, der oben im Fels sitzend die Umgebung beobachtet, mal guckt ein Murmeltier vorsichtig aus dem Bau und knabbert an einer Löwenzahnblüte.
Und am Wegesrand steht plötzlich eine Gämse, die sich nicht sicher ist, was sie von den Wanderern zu halten hat und mit einem Sprung auf den Hang ins grüne Dickicht verschwindet. Nur ihr Kopf lugt danach noch aus den Ästen hervor. Auch für Schmetterlinge ist der Nationalpark ein Paradies. Wer bei der Pause im Gras sitzt, hat schnell einen auf der Schulter sitzen.
Aber der Nationalpark ist kein Ponyhof. Auf dem Weg nach oben gibt es die eine oder andere Hürde, zum Beispiel die Saugasse. Auf dem Streckenabschnitt mit mehr als 30 Kehren geht es vergleichsweise steil über 350 Höhenmeter hinauf. Das schmerzt – spätestens der anschließende Muskelkater in Waden und Oberschenkeln.
Aber jede Anstrengung wird belohnt. Und irgendwann ist dann nach gut fünf Stunden Aufstieg das Kärlingerhaus zu sehen, die Hütte des Alpenvereins auf 1630 Metern, in der die Übernachtung geplant ist. Links und rechts davon liegen die Gipfel der Berchtesgadener Alpen und davor der Weg, der sich durchs Wiesengrün bis vor die Hüttentür schlängelt. Ganz still ist es hier oben, die Wolken stehen bewegungslos.
Nur ein kleines Stück hinter dem Kärlingerhaus ruht der Funtensee, berühmt-berüchtigt als der kälteste Punkt Deutschlands: schwer vorstellbare minus 45,9 Grad wurden hier 2001 gemessen, allerdings im Dezember. Sibirische Verhältnisse. Im Sommer hat der See auch nicht gerade Badewannentemperatur.
Aber nach dem Aufstieg verspricht die bergseegrüne Wasserfläche in ungewöhnlicher Höhenlage doch die angenehme Erfrischung, die viele jetzt gebrauchen können – und schon ist die erste Wanderin im Wasser, nicht ohne einen Laut leichten Erschreckens. Ein paar Schwimmzüge, dann geht es schnell zurück ans Ufer, länger als wenige Minuten hält keiner durch. Bei den Schätzungen zur aktuellen Wassertemperatur gibt es Schwankungen: Um die 15 Grad gelten als realistisch, gefühlte 8 lautet die Einzelmeinung eines verweichlichten Großstädters.
Lukas Schöbinger hat den Funtensee fast direkt vor der Haustür. Der 21-Jährige verbringt nach seiner Ausbildung erstmals den Sommer hier oben in einer Hütte aus dem Jahr 1841. Ihm geht es nicht ums Baden und auch nicht um die Bergidylle, er interessiert sich nur für Schnaps – und zwar für richtig hochprozentigen. Schöbinger ist von Beruf Destillateur, er arbeitet bei Grassl. Das Traditionsunternehmen in Berchtesgaden hat seit dem 17. Jahrhundert das Recht, Enzian zu brennen. Und dafür oben in den Bergen die Wurzeln der Pflanze auszugraben, die für die Schnapsherstellung unverzichtbar ist, anders als die von Heino besungene Variante aber nicht blau blüht.
Schöbinger bleibt für gut sieben Wochen auf der Brennhütte, vor allem der Wurzeln wegen. «Enzian ist die bitterste Pflanze der Welt», sagt er. «Den lassen auf der Alm sogar die Kühe stehen.» Aber in der Wurzel ist Fruchtzucker, und daraus lässt sich der bekannte Schnaps destillieren, von dem Schöbinger und sein Kollege Max Irlinger versichern, er sei auf jeden Fall gut für die Verdauung.
Beim Ausgraben lässt sich Schöbinger von Freunden helfen. «Die kriegen Schnaps so viel sie wollen und werden pro Kilo bezahlt», erzählt er. Die Wurzeln werden im Bach vor der Hütte gereinigt, später in der Hütte zerhackt, die daraus angesetzte Maische in einer Brennblase aus dem Jahr 1940 destilliert.
Das Destillat für den Enzian hat dann noch 80 Prozent und muss im Herbst ins Tal gebracht werden – mit dem Helikopter. Anschließend wird es im Fass gelagert, die Feinarbeit erledigt Schöbinger im Winter in Berchtesgaden. Bis der Enzian in die Flasche kommt, dauert es je nach Sorte noch etliche Jahre.
Im Kärlingerhaus herrscht am nächsten Morgen Aufbruchstimmung. Die ersten haben bald nach Sonnenaufgang ihren Hüttenschlafsack zusammengefaltet. Ein älterer Wanderer prahlt vor der Hüttentür, er habe schon das zweite Frühstück hinter sich.
Auch Stöckl will früh los zur Gipfelwanderung auf den Feldkogel, der in knapp einer Stunde zu erreichen ist. Der Funtensee liegt ruhig im Schatten. Die Sonne steht noch so tief, dass ihre Strahlen den Wald am Hang nur zum Teil erreichen.
Und so geht es durch die morgendliche Alpenlandschaft bergauf in Richtung Gipfel, vorbei am satten Grün der Alpenwiesen. Das erste Murmeltier des Tages lässt nicht lange auf sich warten. Das Gipfelkreuz steht in 1886 Metern Höhe, und der Blick von oben ins Tal fällt weit über den Königssee. Die Kirchtürme von St. Bartholomä sind zu sehen, ganz hinten die Häuser von Berchtesgaden. Über allem ragt der nahe Watzmann sogar mehr als 2700 Meter in den Himmel.
Lukas Schöbinger kommt öfter mal auf den Feldkogel, weil man hier anders als am Funtensee Handyempfang hat. Doch den Wanderern, die oben am Gipfelkreuz stehen, ist das Smartphone erst einmal so egal, dass sie nicht mal Selfies machen. Auch Hansi Stöckl sagt jetzt nichts. Aber er denkt sich wohl: So soll es sein.
Info-Kasten: Nationalpark Berchtesgaden
Reiseziel: Der Nationalpark Berchtesgaden liegt in Oberbayern an der Grenze zu Österreich ganz im Südosten Deutschlands. Für Wanderer gibt es ein Wegenetz von 260 Kilometern Länge. Hüttenübernachtungen lassen sich vorab online buchen, das ist für den Sommer sehr zu empfehlen.
Anreise: Mit der Bahn ab München sind es mit Umsteigen in Freilassing gut zweieinhalb Stunden bis Berchtesgaden. Für größere Entfernungen ist der nahe Flughafen Salzburg eine Alternative.
Informationen: Berchtesgadener Land Tourismus, Maximilianstraße 9, 83471 Berchtesgaden (Tel.: 08652/656 50 50, E-Mail: info@bglt.de).