„Mister Boeing“ geht von Bord: Eine Hommage an Mike Lombardi
Mit Mike Lombardi ging nicht nur der Senior Corporate Historian der Boeing Company im Juni in Rente, sondern auch das geballte Wissen über die Vergangenheit des Luft- und Raumfahrtkonzerns.
Über einen Zeitraum von 46 Jahren war Mike Lombardi für Boeing tätig – davon dreißig Jahre in seiner Rolle als Historiker. Mit ihm geht erst der dritte Leiter des gigantischen Boeing-Archivs in Rente. Dessen Gründer Harl V. Bracken Jr., der bereits 1944 damit begann die wahrscheinlich weltweit größte Sammlung dieser Art aufzubauen, folgte Paul Spitzer als Nummer Zwei. Schließlich übernahm Mike Lombardi das Zepter der Bewahrung eines ganz besonderen Schatzes der Luftfahrtgeschichte.
AERO INTERNATIONAL sprach mit jenem Mann, der es zu seinem Lebenswerk machte Millionen Fotos, Dokumente, Filme, Datensätze und Artefakte zu archivieren. Lombardi: „das Archiv umfasst nicht nur das Erbe des ursprünglichen Boeing-Konzerns, sondern durch dessen Zukäufe. Selbst Material von Fokker oder North American. Und so gehört auch die Geschichte des Lieblingsflugzeugs Lombardis zu seinem Reich der Schätze: die North American P-51 Mustang.
Fragt man den – jetzt ehemaligen – Archivleiter hingegen nach seinem Lieblingsobjekt, erhält man eine überraschende Antwort: „Es ist kein Objekt sondern vielmehr die Menschen, die für dieses Unternehmen arbeiten.“ Lombardi schwärmt geradezu für seine Kollegen, die bei Boeing nicht nur einen Job, sondern eine Erfüllung finden. Als Beispiel nennt er den Besuch von Bill Boeing Jr., der einst in hohem Alter die Endmontage der Boeing 747 in Everett inspizierte. Als sich unter den Arbeitern herumsprach, wer dort mit einem Elektrofahrzeug durch die Hallen chauffiert wird, strömten sie herbei und brachten ihm ihren Respekt zum Ausdruck. Jeder wollte dabei Bill Boeing Jr. so nah wie möglich kommen.
Mike Lombardi war 46 Jahre bei Boeing
Lombardis Boeing-Karriere begann im Jahr 1979, nur ein Jahr nachdem er die Highschool beendet hatte. Beginnend mit der Poststelle wechselte er schnell zur technischen Bibliothek, um seine Leidenschaften für Bücher und die Luftfahrtgeschichte zu kombinieren. Eines Tages kam eine Kollegin auf ihn mit der Nachricht zu, dass eine Stelle im Unternehmensarchiv frei sei. Lombardi zögerte nicht lange und nahm den Job an, der zu seinem Lebenswerk wurde und ihn zu „Mister Boeing“ machen sollte. „Wenn ich gefragt werde, wie ich zum Boeing-Archivar wurde sage ich, dass es Momente im Leben gibt, in denen jemand in Dein Leben tritt und Dir etwas anbietet, oder Dir einen Rat gibt, oder Dir hilft. Du musst dafür offen sein und es wollen, dann kann es dazu führen, dass sich alles für Dich positiv verändert. Ich hätte ja auch Nein sagen – und meinen alten Job behalten können. Aber für mich war dieser besondere Moment ein Segen.“
Als Mike Lombardi die Schlüssel für das Unternehmensarchiv überreicht bekam, war sein Vorgänger bereits in Rente und niemand vor Ort – außer ihm. „Ich war privilegiert, dass ich alle meine Vorstellungen über die Leitung dieses großartigen Archivs selbst entwickeln und umsetzen konnte“, erinnert er sich. Jedoch war Lombardi mit diesem Sprung ins kalte Wasser gleichzeitig gezwungen das Einmaleins eines Archivleiters in Rekordzeit zu lernen.
Sprung ins kalte Wasser
Dabei war das Boeing-Archiv ursprünglich nicht in seiner heutigen Funktion als Bewahrung eines Großteils der US-amerikanischen Luftfahrtgeschichte gedacht, sondern als technische Bibliothek. Lombardi berichtet, dass die Anfänge in dem Bemühen des Boeing-Managements Mitte der vierziger Jahre begründet waren, sprichwörtlich nicht das Rad neu zu erfinden. So erhielten junge Ingenieure, die bei Boeing ihre Karriere begannen, in dieser Bibliothek erste Einblicke in das, was bereits im Unternehmen an technischen Entwicklungen geleistet wurde.
Es war der Verdienst von Harl V. Bracken Jr., diese Bibliothek in ein professionelles Firmenarchiv verwandelt zu haben. Doch Bracken wollte nicht nur Dokumente, sondern auch „echte“ Flugzeuge sammeln. Und so legte er mit William E. Boeing Jr. und weiteren Gleichgesinnten den Grundstein für das heutige Museum of Flight am Boeing-Werk in Seattle, das zum Pflichttermin eines jeden Besuchs von Luftfahrtinteressierten der Westküstenmetropole gehören sollte.
„Das waren sehr große Schuhe, in die ich nach Bracken und Spitzer in den 90er-Jahren gestiegen bin“, so Mike Lombardi. Gleichwohl steht noch nicht fest, wer seine eigene Nachfolge antreten wird. Gesichert ist hingegen, dass das Unternehmensarchiv des Boeing-Konzerns fortbestehen wird. Dafür sorgen zunächst fünf Mitarbeiter, die Lombardis-Werk fortführen. „Boeing ist ein großartiges Unternehmen und sehr stolz auf das in seiner langen Geschichte Geleistete. Vom ersten Passagierflugzeug mit Druckkabine, der Boeing 307, bis zu aktuellen Raumfahrzeugen. Und der Konzern ist auf seine Mitarbeiter stolz – und umgekehrt die Mitarbeiter auf Boeing. Das spiegelt sich in unsere Archivarbeit wider“, betont der nun ehemalige Archivar.
Stolz auf Boeing
Im Verlauf der vier Jahrzehnte prägte Lombardi die Sammlung dahingehend, dass er das Boeing Historical Archive nicht nur als Kosten verursachende Abteilung des Konzerns verwaltete, sondern auch zu dessen Umsatz beitrug. Dafür entwickelte er die Historical Services. „Wir sind Teil eines Unternehmens, das ein Business betreibt. Und so muss jeder Teil des Unternehmens dazu seinen Beitrag leisten. So konzentrierte ich mich darauf für Boeing, mit dem mir anvertrauten, einzigartigen Schatz einen Mehrwert zu liefern“, blickt Lombardi zurück. Rechercheanfragen an das Archivteam sowie die persönliche Recherche im Archiv sind kostenfrei, jedoch ist der Zugang auf Grund von Sicherheits- und Kapazitätsgründen stark limitiert. Allerdings entstehen den kommerziellen Nutzern von Fotomaterial und Videos Kosten über die Lizensierung des gewünschten Materials.
Lombardi freut sich darüber, dass zu keiner Zeit im Raum stand, dass das Archiv abgeschafft wird: „Boeing ist ein sehr gutes Unternehmen und seine Führungskräfte waren sehr edelmütig, als sie den Entschluss fassten die Geschichte der Luftfahrt zu bewahren.“ Das gilt nicht nur für Boeing selbst, sondern sämtliche Zukäufe. Wie McDonnell Douglas, die bereits erwähnte North American und andere. Die Geschichte von Boeing ist somit weit mehr jene des Kernunternehmens, sondern umfasst so gut wie die gesamte Luftfahrthistorie der USA. Lombardi arbeitete für deren Bewahrung eng mit anderen großen US-amerikanischen Museumsinstitutionen, wie dem Smithsonian und dem Museum der US Air Force zusammen.
Der bisherige Archivleiter erinnert sich an eine Begebenheit im Rahmen der Übernahme von McDonnell Douglas durch Boeing. Damals wurde nicht nur ein Großteil des McDonnell-Douglas-Unternehmensarchivs in Santa Monica in jenes von Boeing integriert, sondern auch die Sammlung am ursprünglichen McDonnell-Standort in St. Louis. „Der Funke zwischen dem dortigen Archivleiter und mir sprang schnell über, als ich ihm von meiner Begeisterung für die F-4 „Phantom“ berichtete – und er mir freudestrahlend erzählte, wie großartig er das Flugboot Boeing 314 „Clipper“ findet. Das war ein Beispiel dafür wie Luftfahrtgeschichte verbindet,“ erinnert sich Lombardi.
Wie die meisten Unternehmensarchive, sieht sich auch das Boeing-Konzernarchiv herausgefordert, große digitale Datenmengen zu speichern. Neben Textdokumenten gehören dazu vor allem Fotos und Bewegtbilder. Für deren Bewahrung steht dem Archiv ein eigener Speicher in Terrabite-Größe zur Verfügung.
Dennoch sind die historischen Schätze zurückliegender Jahrzehnte weiterhin in analoger Form im physischen Archiv vorhanden. Das älteste Exponat stammt aus dem Jahr 1910 und der älteste Film aus dem Jahr 1920. Im Archiv lagern rund zehn Millionen Fotos und Dokumente sowie zirka 100.000 Filme. Mit der fortlaufenden Digitalisierung des gesamten Bestands hat das Boeing-Archiv eine externe Fachfirma beauftragt.
Gigantische Datenmenge
Innerhalb des Unternehmens gibt es abgestimmte Verfahren, welche Dokumente an das Archiv geschickt werden, damit die globale Entwicklung des Boeing-Konzerns permanent um aktuelle Ereignisse ergänzt wird. „Es gibt aber auch die Anrufe von meist älteren Herrschaften oder Angehörigen, die ihre persönlichen Sammlungen aus Platz- oder Altersgründen in gute Hände geben möchten. Dort helfen wir natürlich auch und übernehmen die Bestände entweder in unser eigenes Archiv oder vermitteln andere geeignete Archive oder Museen“ erläutert Lombardi.
Zum Einlagern der eigenen Bestände verwendet Boeing ein kompaktes System mit gigantischen Ausmaßen. Das rund 20.000 Qudratmeter große Hauptlager ist klimatisiert und wird auf einer niedrigen Temperatur gehalten, um vor allem Filme und Fotonegative bestmöglich zu konservieren.
Ganz im Sinn der Ur-Väter der Sammlung nutzte – und nutzt Lombardi auch nach seinem offiziellen Ausscheiden aus dem Unternehmen – zudem sein Fachwissen, um die Boeing-Geschichte einem kleinen oder großen Publikum zu vermitteln. Das nicht nur außerhalb der Organisation, sondern auch intern. Dabei gibt er an nächste Generationen weiter, welche Unternehmenskultur früher herrschte und was Boeing so erfolgreich machte. Lombardi: „Dieses Vermitteln der Attribute, die Boeing zu einem stolzen Unternehmen machten, bereitet mir große Freude. Ich war in meiner Jugend Trainer einer American-Football-Mannschaft und sehe meine aktuelle Aufgabe darin, die noch aktiven „Spieler“, also die Boeing-Mitarbeiter, über das Vermitteln von Highlights aus der langen Boeing-Geschichte für das Unternehmen zu begeistern.“
Nicht nur die, sondern auch Betreiber von historischen Flugzeugen wenden sich an das Boeing-Archiv mit konkreten Anfragen zu technischen Zeichnungen für Instandsetzungen. „Wir können alles liefern. Von der Douglas DC-3, über die Boeing „Stearman“ und Boeing B-17 „Flying Fortress“ bis zum großvolumigen Transporter Boeing 377ST „Super Guppy“ der NASA – und tragen über unsere Archivbestände dazu bei, diese historischen Flugzeuge flugfähig zu erhalten. Damit ist das Boeing-Archiv weit mehr als ein Wissenshort, sondern selbst ein Teil der Unternehmensgeschichte.“






