Baffin Island, 16. Mai 2017 Eisbären mit frisch erlegtem Mittagessen, Tausende Vögel und die Einhörner der Meere: Das bekommen Fotografen bei einer Expedition rund um Baffin Island in der kanadischen Arktis vor die Linse. Dabei ist der Weg das Ziel – Wetter und Eislage bestimmen die Route. „Wow! Wow! Wow!“ Judy weiß nicht so recht, […]

Baffin Island, 16. Mai 2017

Eisbären mit frisch erlegtem Mittagessen, Tausende Vögel und die Einhörner der Meere: Das bekommen Fotografen bei einer Expedition rund um Baffin Island in der kanadischen Arktis vor die Linse.

Dabei ist der Weg das Ziel – Wetter und Eislage bestimmen die Route.

„Wow! Wow! Wow!“ Judy weiß nicht so recht, wohin mit ihrer Begeisterung. Die Neuseeländerin sitzt in dicker Jacke und Schwimmweste in einem Kajak und paddelt entspannt zwischen den Eisschollen im kanadischen Polarmeer.

Das Wasser ist salzig – und es ist kalt, drei Grad etwa. Drumherum: Eisschollen verschiedenster Größe und immer die Chance, dass direkt vor dem Boot ein Meeresbewohner auftaucht.

Die Kajak-Fahrer tragen Sportkleidung in mehreren Lagen, darüber Wärmendes und schließlich einen orangefarbenen Overall, durch den garantiert kein Wasser kommt. Das zumindest sagt Mark Scriver, der Chef im roten Boot. Man glaubt das sofort. Die Gummibündchen an den Handgelenken sind so eng, dass das Blut langsamer in die Finger fließt. Um in die Anzüge zu kommen, braucht es zwei Menschen.

Auf dieser Expedition der „Akademik Ioffe“ geht es in der kanadischen Arktis rund um Baffin Island, die fünftgrößte Insel der Welt, in 13 Tagen. Die Strecke von Iqaluit nach Resolute ist gut 2000 Seemeilen oder 3800 Kilometer lang. Danach kennt man sich. Das Schiff kann nur rund 100 Passagiere mitnehmen.

Die „Ioffe“, die vom kanadischen Touranbieter One Ocean Expeditions betrieben wird, reist eigentlich als Forschungsschiff durch die Weltmeere. Die Besatzung und der Kapitän sind russisch, die Guides kommen überwiegend aus Kanada. Sie sind Experten in ihrem Fach: ein Vogelkundler, ein Geologe, ein promovierter Eisbär-Experte, eine Historikerin und eine Kunstexpertin, die sich in der Hauptstadt Ottawa mit der Kunst der Ureinwohner beschäftigt.

Dass es sich bei der Seereise keineswegs um eine normale Kreuzfahrt handelt, wird schon beim Einschiffen in Iqaluit klar. Die Gemeinde mit 8000 Einwohnern ist die Hauptstadt des neuesten Territoriums in Kanada, Nunavut. Geteerte Straßen gibt es nicht. Supermarkt, Kirche, ein Stadion, die Verwaltung sowie das Parlament des Territoriums. Mehr nicht. Alles ist beschriftet in Englisch und Inuktitut, der Sprache, auf die sich die Ureinwohner Kanadas geeinigt haben.

Nach einem kurzen Rundgang geht es auf die „Akademik Ioffe“. Zodiaks, Gummiboote mit einem 60-PS-Motor, bringen die Passagiere zum Schiff. Schwimmwesten an, Schwimmwesten aus, ins Zodiak und wieder raus aus dem Zodiak, die steile Gangway am Schiff hinauf und wieder hinunter: Diese Prozedur wird sich während der 13-tägigen Reise mehr als ein Dutzend Mal wiederholen.

Expeditionsleiter Boris Wise stellt beim ersten Treffen klar: Es handelt sich um eine Expedition. Es gibt zwar eine Route, die verschiedene Halte vorsieht – ob das Wetter aber mitspielt, wird sich zeigen. „Am wichtigsten ist es, dass wir zur vorgegebenen Zeit in Resolute ankommen.“ Denn reguläre Flüge von der dortigen Schotterpiste gibt es nur selten. Eiskarten werden täglich auf das Schiff gefunkt. So weiß die Besatzung, auf welche Route sie das Schiff steuern kann – denn ein Eisbrecher ist die „Ioffe“ nicht.

Wenn die Besatzung Eisbären, Wale oder anderes Getier im Wasser ausmacht, wird das Boot langsamer oder hält an, damit die Passagiere die Tiere beobachten können.

Aber auch das ist Zufall. Es kann passieren, dass sich tagelang kein einziges Tier zeigt. Oder aber der erste Eisbär steht gleich bei der ersten Ausfahrt mit dem Zodiak parat – gesichtet im Wasser von Vogelkundler Jacques Sirois, beobachtet von Passagieren, die überwiegend mit ausladenden Kameras und Objektiven ausgestattet sind.

Der Bär ist jugendlich und wohlgenährt, wie Eisbär-Experte Nick Pilfold über die Walkie-Talkies mitteilt, und alles andere als scheu. Er schnüffelt im Wind und bemerkt, dass etwas anders ist als sonst. Nachdem er seinen Zuschauern eine gute halbe Stunde für Fotos zur Verfügung gestanden hat, trollt er sich schließlich ins Gebirge – und taucht später an einer anderen Stelle wieder auf.

Das allerdings bringt eine Eisbär-Mutter mit zwei Kindern auf den Felsen gegenüber in arge Bedrängnis. Mit ihrem Nachwuchs flüchtet sie geschickt den Berg hinauf. Erklärung von Nick: „Eisbären fressen die Jungen auf, wenn sie nichts anderes finden.“

Überwiegend ernähren sie sich aber von Robben, wie auch die Seefahrer bei der Reise live vom Schiff aus miterleben können. Das Eis ist weit in den Süden gedriftet, so dass bereits an den ersten Tagen zwei „Kills“ zu beobachten sind: Bären auf großen Eisschollen, die sich über ihre frisch erlegten Robben hermachen.

Am Ende der Reise wird die Zahl der gesichteten Eisbären 17 betragen, darunter eine Mutter, die mit ihren drei Jungen vom Boot wegschwimmt. «Das sehen wir äußerst selten, dass eine Bärin drei Kinder versorgt», sagt Nick dazu.

In der Mitte der Reise schlägt das eigentlich zu schöne Wetter um, Nebel umgibt das Schiff zwei Tage lang. Eis macht einige Landgänge unmöglich. Das ist die Zeit der Experten, die in einem Hörsaal im Bauch des Schiffs ihre Vorträge halten.

Katie Murray zum Beispiel, Historikerin aus Edinburgh mit einem ausgeprägten Interesse an den Polarforschern. Sie erzählt, warum sich schon im 16. Jahrhundert Entdecker im Auftrag der britischen Krone auf den Weg nach Norden machten, um nach einer Nordwestpassage zu suchen. Diese sollte einen kurzen Weg nach China ermöglichen.

Es brauchte einige Expeditionen, die viele Forscher nicht überlebten, bis Roald Amundsen auf seiner Fahrt von 1903 bis 1905 eine Nordwestpassage von Ost nach West durchfuhr. „Das ist eine Passage, es gibt verschiedene, wie wir heute wissen“, erklärt Katie. Die Routen sind bis heute schwer passierbar, weil sich die Eislage in diesen extremen Breiten schnell verändert – doch immer häufiger sind die Sommer so warm, dass der Weg für Schiffe frei ist.

Die Inuit, die Ureinwohner der Polarregionen, leben mindestens seit 5000 Jahren in diesen extremen Bedingungen. Bis unter minus 50 Grad können die Temperaturen im Winter sinken, von Oktober bis Februar ist es rund um die Uhr dunkel, berichtet Rosie. Die 48-Jährige führt in traditioneller Kleidung die Passagiere durch Mittimatalik, auf Englisch Pond Inlet – ein kleines Dorf in der Region Qikiqtaaluk im Norden von Baffin Island.

Rosie trägt einen Amautik, die traditionelle Wetterjacke der Inuitfrauen, und die traditionellen Stiefel namens Mukluk, beides aus Seehundfell. Der Mantel ist nicht nur ein warmes Kleidungsstück, sondern vor allem ein praktisches: Die Kapuze ist so groß, dass die Frauen ihre kleinen Kinder in den Mantel schieben können und sowohl der Nachwuchs als auch die Mama in der rauen Umgebung warm bleiben. Die Kleidung stellen die Frauen seit jeher mit der Hand her. Ihre Stiefel sind mit aufwändigen Stickereien verziert.

In der kleinen Stadthalle, die Museum und Bücherei ist, erwartet die Schifffahrer eine professionelle Performance. Die Tununiq Arsarniit Theatre Group zeigt die Traditionen der Ureinwohner: ihre Musik, ihre Rituale und ihr Leben mit und in der unwirtlichen Natur.

Da singen zwei Frauen kehlig um die Wette, Theatergründer Lamech Kadloo und einer seiner Neffen zeigen eines der Rituale, mit denen ein Junge in den Kreis der Männer aufgenommen wird: Mit dem Finger im Mundwinkel des jeweils anderen ziehen sie so lange an den Lippen, bis einer vor Schmerzen aufgibt.

Ted, auch einer der Guides auf dem Schiff, ist selbst Inuit und erzählt bei der Expedition immer wieder, wie er und seine Familie den Traditionen der Vorväter folgen und Robben oder Wale jagen. Er hat sich aus Pond Inlet ein Stück Narwal mitgenommen, das er auch den Passagieren zum Probieren gibt.

Diese „Einhörner des Meeres“, wie die seltenen Wale wegen ihres bis zu drei Meter langen Zahnes genannt werden, sind nur in der nördlichen Arktis zu beobachten. Aber auch da spielt der Zufall mit – in der Buchan Bay schwimmt eine ganze Herde im Wasser. Allerdings sind sie weit vom Schiff weg.

Ein anderes Schauspiel bekommen die Gäste am vorletzten Abend zu sehen: Bei strahlendem Sonnenschein versammeln sich in der Meerenge Lancastersund Hunderte Vögel auf dem dunkelblauen Meer. Das ist nicht weiter ungewöhnlich – doch kurz nach den Vögeln tauchen Ringelrobben aus dem Wasser auf. An verschiedenen Stellen, immer in großen Rudeln.

Die eine oder andere Robbe taucht auch bei der beeindruckendsten Paddel-Tour der Reise auf: Am Croker Bay Gletscher fahren die Boote direkt durch das abgebrochene Eis, im Angesicht großer Schollen, die sich mit lautem Knacken und Knistern durch das Meer bewegen.

Es ist kalt, die Sonne scheint vom stahlblauen Himmel – wie auf der gesamten zweiten Hälfte der Reise wird sie nicht untergehen. Judy sitzt wieder warm eingepackt im Kajak und lässt den Blick schweifen. „Ich bin schon ihn vielen Regionen der Welt beim Paddeln gewesen, aber das ist das Tollste, was ich je erlebt habe. Wow!“

Info-Kasten: Baffin Island

Reiseziel: Baffin Island liegt in der kanadischen Arktis überwiegend nördlich des Polarkreises und ist von Iqaluit oder Resolute Bay im Territorium Nunavut zu erreichen. Die wenigen Orte auf Baffin Island sind überwiegend von Inuit bewohnt.

Reisezeit: Die Tour um Baffin Island herum findet nur einmal pro Jahr im Hochsommer statt. Die Temperaturen steigen dann meist knapp über den Gefrierpunkt. Im Hochsommer werden außerdem Fahrten durch die Nordwestpassage angeboten.

Anreise: Von Deutschland aus fliegen verschiedene Fluggesellschaften in die kanadische Hauptstadt Ottawa. Von dort aus geht es mit First Air nach Iqaluit, wo die Reise startet. Der Rückflug startet in Resolute Bay nach Edmonton. Von dort aus geht es über Calgary oder Toronto wieder nach Deutschland.

Ausrüstung und Ausstattung: Outdoor-Bekleidung in verschiedenen Lagen, Handschuhe, Mütze sowie gute Wanderschuhe sind unerlässlich. Gummistiefel und wasserdichte Kleidung werden für jeden Gast zur Verfügung gestellt. Auch ein wasserfester Rucksack gehört zur Ausstattung an Bord. Telefonempfang und Internetzugang gibt es nicht. Die Kabinen sind zweckmäßig eingerichtet, es gibt Suiten, Zweier- und Dreierkabinen mit privaten und gemeinsamen Bädern. Ein Whirlpool, Sauna und ein kleiner Fitnessraum stehen zur Verfügung.

Internet: www.oneoceanexpeditions.com

Verena Wolff, dpa