Der voll besetzte Airbus von Germanwings zerschellte in den Alpen. Keiner der 150 Insassen überlebte die Katastrophe, die noch lange nachwirkt. Am 2. Juli ist das Unglück 100 Tage her. Über die Entschädigungen wird noch gestritten. Frankfurt/Düsseldorf (dpa) – «Wir denken an euch. Wir wünschen euch Kraft. Wir werden die Toten nicht vergessen» – die […]

Der voll besetzte Airbus von Germanwings zerschellte in den Alpen. Keiner der 150 Insassen überlebte die Katastrophe, die noch lange nachwirkt. Am 2. Juli ist das Unglück 100 Tage her. Über die Entschädigungen wird noch gestritten.

Frankfurt/Düsseldorf (dpa) – «Wir denken an euch. Wir wünschen euch Kraft. Wir werden die Toten nicht vergessen» – die selbst gebastelten Plakate im Trauerraum des Joseph-König-Gymnasiums zeigen den tiefen Schmerz, der anhält. In der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Haltern ist er am stärksten zu spüren, weil es hier so viele getroffen hat: 16 Schüler und zwei Lehrerinnen, die von einem fröhlichen Spanienaustausch nicht lebend zurückgekommen sind.

Sie gehören zu den 150 Todesopfern des schlimmsten Flugzeugabsturzes in der Geschichte des Lufthansa-Konzerns, nach bisherigen Ermittlungen absichtlich herbeigeführt vom 27 Jahre alten Co-Piloten Andreas Lubitz am 24. März. Am 2. Juli ist das Unglück 100 Tage her.

Die Ermittler um Staatsanwalt Brice Robin haben nach dem Absturz in den französischen Alpen hart gearbeitet und ihre Erkenntnisse schnell mit der Öffentlichkeit geteilt. Ein technischer Fehler an dem mehr als 24 Jahre alten Jet wurde schnell ausgeschlossen. Schon nach der ersten Auswertung der Flugschreiber benannte Robin klar Lubitz als Täter, der 149 weitere Menschen mit in den Tod gerissen habe. Unter ihnen sind 75 Deutsche und 52 Spanier.

Unter der Flugnummer 4U9525 war die Maschine an diesem Dienstagmorgen von Barcelona in Richtung Düsseldorf gestartet, wo sie nie ankam. Um sie in Höchstgeschwindigkeit am Berg zerschellen zu lassen, hatte der Erste Offizier zuvor seinen Kapitän aus dem Cockpit ausgeschlossen und dann ruhig den Sturzflug eingeleitet, den er den Ermittlungen zufolge schon auf dem Hinflug kurz ausprobiert hatte. Alle Funkrufe der Flugsicherung und des Militärs ließ Lubitz unbeantwortet, atmete ruhig bis zum finalen Crash. «Ich habe Probleme mit dem Begriff Selbstmord», sagt der Staatsanwalt. «Wenn man 150 Personen mit in den Tod reißt, ist das für mich eigentlich kein Selbstmord.»

Am unwegsamen Absturzort im Gemeindegebiet des Örtchens Prads-Haute-Bléone bot sich den Einsatzkräften ein Bild des Grauens. Nach Wochen härtester Aufräumarbeit im Hochgebirge konnte nur etwa die Hälfte der rund 6000 gefundenen Leichenteile zweifelsfrei den 150 Toten zugeordnet werden. Für die übrigen soll in der Nähe des Absturzortes ein kollektives Grabmal errichtet werden. Der Chef des Kriminalinstituts der Gendarmerie, François Daoust, weiß um die Bedeutung der Identifizierung: «Einen Körper an seine Familie zurückgeben zu können, das heißt, die Trauerarbeit beginnen zu können, die so wichtig ist, um im Leben weitergehen zu können.»

Am 11. Juni hat Staatsanwalt Robin den Co-Piloten Lubitz als «absolut flugunfähig» beschrieben. Er habe unter der «handfesten Psychose» gelitten, dass er sein Augenlicht verlieren und damit seinen Traumberuf Pilot nicht mehr würde ausüben können. In den Wochen vor dem Absturz besuchte er nicht weniger als 41 Ärzte und bekam Psychopharmaka in großen Mengen verschrieben, wie die Ermittlungen ergaben. Für die Zeit des Todesflugs war er krankgeschrieben und damit flugunfähig, ohne dass Lubitz das seinem Arbeitgeber mitgeteilt hätte.

Durch Haltern ist vor wenigen Tagen ein nicht enden wollender Konvoi blütenweißer Leichenwagen gefahren. Bürgermeister Bodo Klimpel bebt die Stimme, wenn er stellvertretend für die Familien versucht, die Stimmungslage zu beschreiben. Jede Trauerfeier sei auf ihre Weise dramatisch gewesen, sagt er. Er erzählt von Pfarrern, die nicht mehr weiterreden konnten vor lauter Tränen. Von Hunderten, die sich am offenen Grab von ihren Freunden verabschieden mussten. Von einer Mutter, die bei der Bestattung unaufhörlich den Sarg ihrer Tochter streichelte. «Das krieg ich nicht aus meinem Kopf.»

Auch aus Montoursville in den USA erreichte die Halterner Schüler ein Paket: Aus dem Örtchen in Pennsylvania kamen 16 Schüler und fünf Begleiter, die 1996 beim Absturz eines Transatlantik-Fluges ums Leben kamen. Die auf diese tragische Weise verpartnerte Schule hat 1000 gefaltete Kraniche geschickt. Einer japanischen Legende nach stehen sie für einen Wunsch, den die Götter erfüllen. Den größten Wunsch, alles ungeschehen zu machen, bleiben die Götter aber schuldig.

Ein Extra-Raum im Halterner Gymnasium soll Platz bieten für Trauer und Andenken – und zwar so lange, bis die Zehntklässler an der Schule ihr Abitur gemacht hätten. Die Tür steht immer offen. Mehr als einen Meter Fensterbank füllen die Kondolenzbücher. Auf Tischen stehen Kerzen, liegen Fotos, ein Fußballschal, ein Kuscheltier – Erinnerungen an die Freunde, die so sehr vermisst werden.

Haltern ist größer als Montoursville. Und doch, so glaubt Klimpel, sei fast jeder der 38 000 Einwohner betroffen. Zwar kennt nicht jeder jeden, aber die verunglückten Kinder waren Bindeglieder, die sie jetzt zu einer gemeinsam trauernden Stadt machen: «Das ist diese so dichte Vernetzung: 16 junge Menschen, die mit ihren Familien und Freunden so verbunden waren in Vereinen, in der Schule, in den Ortsteilen, dass wirklich jeder irgendwie betroffen ist.» Mit dem Unglück ist die Kleinstadt noch lange nicht fertig.

Germanwings und ihre Konzernmutter Lufthansa müssen sich seit dem Absturz eine Menge unbequemer Fragen stellen lassen und sind seit kurzem auch offizieller Gegenstand der strafrechtlichen Untersuchungen durch französische Ermittlungsrichter. Hätten die Vorgesetzten nicht um die psychischen Probleme Lubitz‘ wissen müssen, der seine Pilotenausbildung bei Lufthansa im Jahr 2009 wegen depressiver Störungen unterbrochen hatte? Der junge Mann galt den Gutachtern allerdings als ausgeheilt, hat die Pilotenprüfung mit überdurchschnittlichen Leistungen bestanden und konnte eine uneingeschränkte Zulassung vorweisen.

Klar wurde aber auch: Nach dem Härtetest vor Aufnahme an der Bremer Verkehrsfliegerschule werden Lufthansa-Piloten so gut wie gar nicht mehr auf ihre psychische Stabilität überprüft. Während die körperliche Fitness regelmäßig untersucht wird, spielt die Psyche in den Gesprächen mit den Fliegerärzten nur eine Nebenrolle. Die Europäische Kommission bemängelt zudem schon seit längerem, dass in Deutschland Daten über mögliche Erkrankungen von Piloten nur in verschlüsselter Form an das Luftfahrtbundesamt weitergeleitet werden und nicht mit den Klarnamen der Piloten. Auch gebe es in anderen Ländern strengere Medizin-Checks.

Lufthansa-Chef Carsten Spohr will seine Piloten künftig auch unangekündigt überprüfen lassen. Bei einem medizinischen Kurz-Check unmittelbar vor dem Start könnten die Flugzeugführer unter anderem auf Alkohol oder auffällige Medikamente getestet werden. Ob Lubitz zum Tatzeitpunkt unter Medikamenten stand, ist derzeit noch unbekannt.

Konkret hat sich bereits einiges geändert beim größten Luftverkehrskonzern Europas, der beispielsweise auf Konzernebene einen Chef-Sicherheitspiloten installiert hat. Nach anfänglichem Zögern wurde auch das in den USA übliche Vieraugen-Prinzip für das Cockpit übernommen: Inzwischen muss ein Flugbegleiter ins Cockpit kommen, bevor einer der Piloten es verlassen darf. An der Technik der Türen, die ein Öffnen gegen den Willen des Piloten effektiv verhindern, wird festgehalten. Eine beim Branchenverband BDL angesiedelte Expertengruppe berät weitere mögliche Konsequenzen aus dem schwersten Unfall in der Geschichte der Lufthansa.

«Wir sind alle viel enger zusammengerückt» war in den Wochen nach der Tragödie von vielen Lufthanseaten zu hören. Selbst die festgefahrenen Tarifverhandlungen mit den Piloten kamen während des «Burgfriedens» wieder in Bewegung, indem sich die Lufthansa-Spitze auf die lange geforderte Gesamtschlichtung einließ, die freilich immer noch nicht so richtig in Schwung gekommen ist. Bei den Flugbegleitern brauchte es massive Streikdrohungen der Kabinengewerkschaft Ufo, nun doch wieder die Verhandlungen aufzunehmen. Belastend wirkt der Konzernumbau, dem auch der Markenname Germanwings zum Opfer fallen soll. Das war allerdings schon vor dem Todesflug geplant.

Nachhaltig beschädigt hat die Tragödie das Image des Unternehmen wohl nicht. Die Lufthansa sei mit einem gewaltigen Reputationspolster in die Krise gegangen und habe in der Kommunikation fast alles richtig gemacht, lobt der Kieler Krisen-PR-Experte Frank Roselieb. Die wenigen bekannten Fakten schnell bestätigt, Spekulationen vermieden und auch möglicherweise belastende Informationen – etwa zur Auszeit des Co-Piloten während seiner Ausbildung – herausgegeben.

Zudem habe Lufthansa mit dem neuen Chef Spohr einen «perfekten Markenbotschafter» an Bord gehabt, der am Unglücksort wie bei der Trauerfeier im Kölner Dom Präsenz gezeigt hat. «Pilot, Ingenieur, zwanzig Jahre im Unternehmen, knapp 50 Lebensjahre alt und mit ersten grauen Schläfen. Mehr Glaubwürdigkeit in Krisenzeiten geht kaum.»

Gut angekommen ist auch, dass Lufthansa ihrem Krisenhandbuch folgend die personellen Ressourcen vorrangig dazu genutzt hat, die Hinterbliebenen zu unterstützen. Finanzielle Soforthilfe von zunächst 50 000 Euro pro Opfer wurde schnell auf den Weg gebracht, was aber noch nichts über die zivilrechtlichen Auseinandersetzungen um individuelle Entschädigungen aussagt.

Um sie hat ein Millionenpoker begonnen. Ein erstes Angebot der Lufthansa von 25 000 Euro Schmerzensgeld neben der staatlichen Opferentschädigung wird von einzelnen Opferanwälten als zu niedrig kritisiert. Ein Versicherungskonsortium mit der Allianz an der Spitze hat 278 Millionen Euro für die Hinterbliebenen, die Arbeit der Betreuungsteams und den zerstörten Airbus A320 bereitgestellt. Anwälte aus Deutschland, Spanien und den USA verhandeln mit der Germanwings-Mutter Lufthansa über die Zahlungen. Experten rechnen mit am Ende durchschnittlich siebenstelligen Summen für jede betroffene Familie. Im Einzelfall könne es aber starke Abweichungen geben.