Wem der Trubel auf Mallorca zu viel ist, der kann stattdessen nach Formentera übersetzen. Die Balearen-Insel hat auf kleiner Fläche viel zu bieten. Verklären muss man die Beschaulichkeit aber nicht. Sant Francesc de Formentera (dpa/tmn) – Es bleibt keine andere Wahl als das Boot. Während Mallorcas Flughafen für Millionen Gäste pro Jahr ausgelegt ist, geht […]

Wem der Trubel auf Mallorca zu viel ist, der kann stattdessen nach Formentera übersetzen.

Die Balearen-Insel hat auf kleiner Fläche viel zu bieten. Verklären muss man die Beschaulichkeit aber nicht.

Es bleibt keine andere Wahl als das Boot. Während Mallorcas Flughafen für Millionen Gäste pro Jahr ausgelegt ist, geht es nach Formentera nur auf dem Seeweg.

Nach dem Ablegen in Ibizas Hauptstadt Eivissa verschwimmen im Rücken die Häusermassen, Hafencafés und Hotelkästen. Eine halbe Stunde braucht die Fähre, um Urlauber in eine andere Welt zu überführen.

Robert Rosselló schaut sich die Passagiere dann genau an. «Bereits auf dem Schiff fällt der Stress ab. Der Ausdruck im Gesicht der Leute ändert sich. Sie sind plötzlich locker, frei, lächeln», sagt der 48 Jahre alte Hoteldirektor. «Dann gehen sie mit ihrem Gepäck, mit dem sie vorher hektisch gekommen waren, ganz langsam von Bord. Der Rhythmus ändert sich. So geht es mir selber auch.»

Rosselló weiß, wovon er spricht, wenn er das 83 Quadratkilometer (km²) kleine Formentera mit dem 3640 km² großen Mallorca vergleicht. In der Saison zwischen Mai und Oktober leitet er ein schickes Haus an der Nordostküste Formenteras. Den Rest des Jahres lebt er mit der Familie in seiner Heimat Mallorca.

«Dort hast du zwar mit Palma de Mallorca eine richtige Stadt. Du hast viele Restaurants, Einkaufscenter, eine Traumbucht wie Alcúdia. Aber es gibt viele Leute, viele Autos, Huperei, Ampeln», sagt der Spanier. «Hier auf Formentera haben wir keine einzige Ampel.»

Blick in den Nachthimmel

Es ist derselbe Archipel, dieselbe Luft, dieselbe Mittelmeerflora – doch alles ist anders als auf Mallorca. Was es auf Formentera nicht gibt, sind Highlife, Autobahn, Golfplatz und Berge. Und ebenso wenig Zeugnisse der Kultur, die es ansatzweise mit der Kathedrale Palmas sowie den Museen und Klöstern Mallorcas aufnehmen könnten.

«Doch das, was wir haben, ist mehr wert als das, was wir nicht haben», findet Mathematik- und Physiklehrer Santiago Jiménez. Der 43-Jährige unterrichtet an Formenteras einziger Sekundarschule und begründete kurz vor der Pandemie die Astronomische Vereinigung der Insel. Nun hat sich die Corona-Lage entspannt.

Jiménez trifft sich am Abend mit Freunden zur Himmelsbeobachtung an der alten Windmühle beim Dorf El Pilar de la Mola. Zwei Teleskope haben die Hobbyastronomen aufgebaut, einen Klapptisch und Stühle. Es ist ruhig, wie fast immer auf Formentera. «Die Lichtverschmutzung bei uns ist minimal», sagt Jiménez. «Hier sieht man oft die Milchstraße, Venus, Jupiter, Mars, Saturn.» Nur heute nicht. Dazu ist der Vollmond zu intensiv. Trost spenden die leuchthellen Mondkrater und das Bier aus der Kühlbox.

Jiménez animiert Inselbesucher zum Blick ins nächtliche Firmament. «Da reicht ein einfaches Fernglas und ein Plätzchen am Strand. Oder hier auf der Hochebene La Mola. Oder im Süden am Kap Barbaria.» Der Vorteil seien die kurzen Anfahrtswege: «In höchstens zwanzig Fahrminuten ist man überall.» Auf Mallorca ist das anders.

Die Sache mit dem Neptungras

Die geringen Entfernungen sind typisch für Formentera, beliebte Transportmittel Vespa und Rad. Knapp 70 Kilometer Küste bieten herrliche Strände: Ses Illetes und Llevant an der Nordspitze, Es Pujols im Nordosten, Cala Saona im Westen, Migjorn an der Südflanke.

Fluch und Segen zugleich ist das Neptungras, Posidonia oceanica, das untermeerische Wiesen bildet und auf Formentera ein noch sensibleres Thema ist als auf Mallorca. Die Anschwemmungen an den Stränden müffeln und sind keine Augenweide. Aber Indikatoren für gesunde Gewässer, da sie für Sauerstoffzufuhr sorgen, die Selbstreinigung des Meeres fördern und Fischen Schutz und Laichstätten bieten.

Eine Inselkoryphäe in Sachen Neptungras ist Meeresbiologin Daisee Aguilera, 35. Schon vor Jahren begann sie damit, Skipper von Jachten dazu anzuhalten, nur über dem Sand die Anker zu werfen und niemals über den ökologisch wertvollen Neptungraswiesen. Während ihrer Patrouillen scheute sie sich nicht, auch VIP-Boote anzusteuern. «Auch Superstars sollen korrekt ankern», sagt sie. Und erinnert sich an Lektionen für die Kapitäne von Beyoncé, Giorgio Armani, Zinedine Zidane, Naomi Campbell, Roberto Cavalli und Madonna.

Wer auf Schnorcheltour geht, schwebt schwerelos über dem Grün am Meeresgrund, wo sich die Neptungräser hin- und herwiegen. Zur maritimen Lebensgemeinschaft zählen schwarze Schwämme, Seeigel, Seesterne, Tintenfische und Zackenbarsche.

Für die Touristen wird das Neptungras an den Stränden entfernt. Es lässt sich zur Anreicherung der Böden in der Landwirtschaft nutzen. «Dazu muss man es vorher ein Jahr lang auf Haufen legen, damit der Regen das Salz auswäscht», weiß Aguilera.

Von Salinen, Wanderungen und Eidechsen

Die Umweltexpertin hat in den Salinen der Insel eine steigende Population an Flamingos ausgemacht und erzählt von denkbaren Zukunftsprojekten wie einem Salzmuseum und der Vermarktung von Salzsprays. Den Salzgärten Mallorcas und den dortigen Spitzenprodukten dürfte Formentera allerdings nie das Wasser reichen.

Für die Wanderwege gilt das ebenso. Auf Mallorca füllen sie ganze Reiseprogramme und Bücher, auf Formentera eine magere Broschüre.

Klassiker ist der Camí de sa Pujada, ein historischer Trampelpfad, der vom Küstendorf Es Caló de Sant Agustí durch Wäldchen aus Aleppo-Kiefern auf die Hochebene La Mola führt. Mit traumhaften Panoramen auf den Mittelteil der Insel, der sich zwischen den glitzernden Küstenstreifen wie eine Taille zusammenschnürt.

Chaotisch ist die Beschilderung des Wanderweges, der im Nordwesten beim Picknickareal Can Marroig zum historischen Küstenwachtturm Gavina startet. Schilder tauchen auf und verschwinden. Markierungen unterwegs: Fehlanzeige. Daran hat sich seit Jahren nichts geändert. Verlässlich sind nur die Begleiter, die über den Weg huschen und im Gesträuch verschwinden: Pityusen-Eidechsen in Blau, Grün und Türkis. Deutlich mehr Balearen-Eidechsen bekommen Besucher auf Sa Dragonera vor der Südwestküste Mallorca zu sehen, Ziel eines Bootsausflugs.

Liebenswert rückständig, aber nicht günstig

Was Formentera wie Mallorca bietet, sind Begegnungen mit kauzigen Typen. Der gebürtige Bremer Ekki Hoffmann, 68, lebt seit drei Jahrzehnten auf der 11 000-Einwohner-Insel. Mit Pferdeschwanz, Ohrring und legerem Outfit sieht er aus wie ein Althippie, ist aber keiner. «Hippies haben keine Firmen», stellt er klar.

Einst arbeitete Ekki Hoffmann in Deutschland als Elektroingenieur, auf Formentera gibt er in seiner Werkstatt in Sant Ferran de ses Roques dreiwöchige Gitarrenbaukurse. «Man bringt aus dem Urlaub nicht nur einen Sonnenbrand mit nach Hause, sondern auch ein Instrument», lautet einer seiner Sprüche. Ein anderer geht so: «Wir schmeißen den Body aus Holz für zehn Minuten ins Meer. Da steckt dann ein Stück Formentera drin. So kommt der balearische Sound in die Gitarre.»

Das Formentera-Feeling umreißt Hoffmann so: «Der allgemeine Trend von „alles moderner, alles größer“ geht an der Insel vorbei.» Das könne man «liebenswert rückständig» nennen.

Das Preisniveau der Hotels und Restaurants ist jedoch alles andere als rückständig, ein Low-Budget-Urlaub auf Formentera unmöglich. Auch die als gebührenpflichtig ausgewiesenen Parkplätze gleich vor Hoffmanns Gitarrenwerkstatt passen nicht ins Bild der allseits propagierten Lockerheit und Stressfreiheit. Der Freundlichkeit und entspannten Mentalität der Bewohner tut das keinen Abbruch.

Trockenfisch und Wein mit Salznote

Kulinarisches Unikat auf Formentera ist der Trockenfisch (peix sec). «Dazu verwenden wir nur Rochen», sagt Belén Palerm, die zusammen mit ihrem Mann David, einem Fischer, die Tradition aufrechterhält.

Mindestens vier Tage lang trocknen die auseinander geschnittenen Fischstreifen auf Leinen in einem Glashaus, das daheim im Hof steht. Danach legt sie Palerm in Gläsern mit Olivenöl ein, beliefert kleine Läden und Restaurants. Stückchenweise kommt der peix sec in Formenteras Bauernsalat (ensalada payesa), zusammen mit Kartoffeln, Tomaten, Paprika, Zwiebeln und Brotwürfeln. Zu dem einfachen Essen passt ein Inselwein. Die Auswahl ist überschaubar. Auf Formentera gibt es lediglich zwei Kellereien. Die Rosés und Weißen haben eine leichte Salznote und ihren Preis. Die Produktion ist aufwendig.

Die Fähre legt ab. Adiós Formentera. Ohne «Tränen in den Augen», wie sie Hoteldirektor Rosselló, leicht übertrieben, beim Abschied mancher Gäste ausgemacht haben will. Dennoch schwingt etwas Wehmut mit. Wird man Formentera das nächste Mal so unverfälscht vorfinden, wie man es jetzt erlebt hat? Erfahrene Balearen-Reisende wissen: Bei Mallorca kann man sich nie ganz sicher sein, bei Formentera schon.

Info-Kasten: Formentera

Anreise: Mit dem Flugzeug nach Ibiza, dort fährt direkt vom Flughafen ein Linienbus zum Hafen von Eivissa. Ab dort verkehren Fähren der Betreiber Trasmapi und Balearia zu Formenteras Hafen La Savina.

Einreise und Corona-Lage: Die Balearen sind kein Corona-Risikogebiet. Für die Einreise nach Spanien sind für Personen ab zwölf Jahren entweder ein Impfnachweis, ein Nachweis über eine Covid-19-Genesung oder ein Corona-Test (PCR oder Antigen) nötig. Details zu den genauen Anforderungen an die Dokumente beim Auswärtigen Amt.

Informationen: www.formentera.es

dpa