06.07.2016 Triumph oder Tragödie? Dazwischen liegen im Zentrum der Basejumper in der Schweiz nur Sekunden. Jedes Jahr zieht es Hunderte zu den steilen Felswänden von Lauterbrunnen. Doch jeder noch so kleine Fehler kann tödlich sein. Lauterbrunnen (dpa) – Sie heißen Dumpster oder Yellow Ocean, Flower Box oder High Nose. Exit Points, Absprungpunkte. Allein schon die […]

06.07.2016

Triumph oder Tragödie? Dazwischen liegen im Zentrum der Basejumper in der Schweiz nur Sekunden. Jedes Jahr zieht es Hunderte zu den steilen Felswänden von Lauterbrunnen. Doch jeder noch so kleine Fehler kann tödlich sein.

Lauterbrunnen (dpa) – Sie heißen Dumpster oder Yellow Ocean, Flower Box oder High Nose. Exit Points, Absprungpunkte. Allein schon die Namen verschaffen Extremsportlern ein wohliges Kribbeln. Hunderte Meter hoch an Felswänden des Lauterbrunnentals im Berner Oberland. Schmale Brücken aus Holz oder Stahl ins Nichts. Von dort gibt es nur eine Richtung. Senkrecht nach unten.

Springen mit gespreizten Armen und Beinen. Fallen bis Luft den Wingsuit füllt, den Flügelanzug. Fliegend vorbei an Wasserfällen. Manchmal mitten hindurch, mit 200 Stundenkilometern. Von unten sieht es aus, als ob Menschen vom Himmel fallen. Dann der Fallschirm. Mit einem Knall platzt er aus dem Rucksack. Adrenalin pur, Triumphgefühl. Basejumping im Wingsuit. Fliegen wie ein Vogel.

Die Springer aus München: Die beiden Männer stehen am Exit Point High Nose. 585 Meter über dem Tal. Walter und Matthias Hilscher, Vater und Sohn aus München. Mittelgroß, schlank, durchtrainiert. Armeekurze Haare der Vater, der Jurist. Lange Lockenfrisur der Sohn, Software-Ingenieur von Beruf.

Walter (54) war in den 80ern Fallschirmspringer bei der Bundeswehr. Das war irgendwann nur noch Routine, langweilig fast. «Beim Wingsuit-Fliegen habe ich hingegen wirklich das Gefühl, mich im Raum frei zu bewegen und dabei alles unter Kontrolle zu haben», sagt er. In Lauterbrunnen gilt er als eine Art Doyen der Basejumper-Szene. Rund 1500 Wingsuit-Flüge gehören zu seiner Bilanz – darunter 18 an ein und demselben Tag vom 421 Meter hohen Menara Tower in Kuala Lumpur.

Bevor Walter dem Sohn das Wingsuit-Fliegen erlaubte, musste Matthias (29) lange trainieren. «Erst Theorie, dann 1000 Fallschirmsprünge, danach 100 normale Basejumps – also Abspringen und gleich den Schirm öffnen – ehe ich den ersten Sprung im Wingsuit gemacht habe.»

Der Sprung ins Dunkle: Es ist kurz vor Mitternacht. Geredet wird kaum. Am Exit-Point ist Konzentration alles, jeder Handgriff muss stimmen. Die Wingsuits sind angelegt, die Sturzhelme mit den Kameras sind festgezurrt. Daumen hoch. Absprung von der High Nose. 15 Sekunden freier Flug. Es sind die letzten des alten Jahres. Im Tal erklingen Kirchenglocken.

«Aus den Augenwinkeln habe ich die Feuerwerksraketen weit unter mir aufsteigen sehen», erzählt der 29-jährige Matthias. «Ein unglaubliches Gefühl.» Dann noch 20 Sekunden Flug – die ersten des neuen Jahres. Fallschirm auf. Ein Ruck und das Gleiten beginnt, sanfte Landung nach knapp einer Minute. Frohes Neues. «Ein Nachtflug vom alten ins neue Jahr – das hat etwas», sagt Walter. Auch im Sommer sind die Hilschers immer wieder in Lauterbrunnen. Von München ist es fünfeinhalb Autostunden entfernt. An einem Wochenende sind 10 bis 20 Sprünge machbar.

Nebenwirkung des Risikos: Geistig erholt, frei im Kopf, psychisch fit für die nächsten Arbeitswochen. So beschreiben Extremsportler Nachwirkungen ihres Adrenalin-Schubs beim Wingsuit-Fliegen. Man trifft sie im «Horner Pub», dem Mekka im Mekka der Basejumper. Abends bei Bier und Raclette, serviert von der Angie, der schlanken blonden Holländerin, die einst der Liebe wegen in das Bergtal kam.

Freundliche, vor allem junge Männer und auch einige Frauen beim entspannten Palavern. Über neue Suits, Erfahrungen mit Exit-Points, mit Schwierigkeitsgraden. Seltener geht es um die Risiken. Die kennt jeder sowieso. Die «Fatality List», die weltweite Totenliste des Basejumping, nachzulesen im Netz, sie wird von Jahr zu Jahr länger. Mehr als 260 Tote seit 1981, davon mehr als 40 im Lauterbrunnental.

Der Bauer: Adolf von Allmen (64) hat zwei Dutzend Kühe. Sein Bergkäse ist begehrt. Die Bauernwirtschaft liegt mitten im Lauterbrunnental, umgeben von Wiesen, eingerahmt von Felswänden. Das Basejumpen bringt ihm ein paar Franken nebenbei. Die Swiss Base Association (SBA), die mit der Gemeinde ein Regelwerk für das Springen aufgestellt hat, verkauft Landetickets. 25 Franken (23 Euro) für ein Jahr. Am Erlös werden Bauern beteiligt, auf deren Wiesen Base-Springer landen. Viel ist es nicht. Letztes Jahr wurden umgerechnet gerade mal 11 000 Euro ausgezahlt – an 22 Bauern.

Schweigegeld sei das, sagen Kritiker. Unsinn, sagt Bauer Adolf. Genau wie das Gerede vom «Tal des Todes». «Schlachtfelder» hatte eine Zeitung die Wiesen genannt, weil sie immer wieder mal Schauplätze tödlicher Unfälle sind. Es kommt vor, dass Wingsuit-Springer gegen Felsen prallen und dann schwer verletzt oder gar tot in den Seilen zu Boden sinken. Oder dass Fallschirme sich nicht öffnen und Basejumper ungebremst in die Tiefe stürzen. Kleine Fehler können zu einer instabilen Fluglage führen, ein plötzlicher kräftiger Windstoß kann zur Falle werden.

«Wenn einer von denen stirbt, ist das immer traurig», sagt Adolf. «Die meisten sind freundliche Menschen, grüßen immer nett, benehmen sich anständig. Naja, Sport würde ich das trotzdem nicht gerade nennen, was die machen. Bei manchen ist das vielleicht eher eine Sucht, sie wollen den Adrenalin-Kick.»

Einmal sei ein Basejumper direkt hinter seiner Scheune aufgeprallt. Ein Norweger. «Seine drei Kameraden haben dem Rettungdienst geholfen, die Leiche wegzubringen. Das war am Vormittag. Am Nachmittag sind die drei dann wieder Springen gegangen. Was soll man machen? Sie tun ja niemandem ein Leid an, höchstens sich selbst.»

Der Touristiker: Tom Durrer ist ein Mann Mitte 30 mit freundlichen Augen und einem kräftigen Händedruck. «Früher standen wir im Schatten prominenterer Alpenorte», sagt der Geschäftsführer von Lauterbrunnen Tourismus. «Aber das Basejumping hat einen enormen Werbeeffekt, allein schon dank der YouTube-Videos, die Springer ins Netz stellen. In der Szene kennt uns heute jeder als das «Basejumper-Tal».»

Vor allem zwei Faktoren hätten das ermöglicht: die einzigartige Formation steil abfallender Felsen gleich gegenüber der alpinen Traumlandschaft mit den Gipfeln von Eiger, Mönch und Jungfrau sei der eine. «Und hinzu kommt, dass in der liberalen Schweiz das Basejumpen – im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland – völlig legal und überall erlaubt ist, außer in Naturschutzgebieten.»

Der Rettungsarzt: Der Zürcher «Tages-Anzeiger» nannte ihn den «Arzt zwischen Himmel und Hölle». Doktor Bruno Durrer (62), Allgemeinarzt und Sportmediziner, erfahrener Bergretter und passionierter Bergsteiger.

«Unser Bergtal ist von der Natur gesegnet – mit Felswänden, Wasserfällen, Flüssen, Höhlen, Canyons und Kletterwänden», sagt Bruno Durrer. Er ist der Vater von Touristik-Chef Tom Durrer. «Wir sind ein Eldorado für Outdoor-Sportaktivitäten und die sind alle gefährlicher als Briefmarkensammeln.» Durrer ist meist auch der Arzt, der im Lauterbrunnental die Totenscheine ausstellt.

Die Statistik des Doktors: Bruno Durrer hat das Basejumpen im Tal miterlebt seit der Schweizer Weltklasse-Springer Xavier Bongard den Extremsport 1989 dorthin brachte. «Tragischerweise war Xavier 1994 auch der Erste, der hier bei einem Sprung tödlich verunglückte, mit 31 Jahren. Er ist an einem Wandvorsprung aufgeschlagen und dann im Spital gestorben.»

Seitdem erfasst der Arzt, der oft mit den Rettungsfliegern der Air Glacier unterwegs ist, in einer Langzeit-Statistik alle schweren Sportunfälle in seinem Sprengel – vom Skifahren über das Bergsteigen bis hin zum Basejumpen. Sein Zahlenwerk zeige, dass mehr Menschen beim Hochgebirgsklettern umkommen als beim Basejumpen. «Wir hatten Jahre mit 7 bis 8 Bergtoten und 2 bis 3 Basejump-Toten.»

Wobei die Zahl der jährlichen Hochgipfelbesteigungen naturgemäß weit unter jener der Base-Sprünge liegt. Pro Jahr kommen 500 bis 600 Basejumper ins Lauterbrunnental. Sie absolvieren rund 20 000 Sprünge.

«Von mir als Arzt erwarten viele, dass ich absolut dagegen bin», erzählt Durrer in seiner Praxis unweit des «Horner-Pubs». «Da setzen doch junge Leute ihr Leben eigentlich sinnlos aufs Spiel, bekomme ich zu hören. Aber es war immer ein Privileg und ein Drang der Jungen gewesen, Grenzen neu zu setzen.» Durrer räumt ein, dass es Basejumper gibt, die Russisch Roulette spielen. «Trotzdem ist das aber ein Sport, den man auf verantwortungsvolle Weise betreiben kann.»

Längst habe sich die internationale Jumper-Szene gut organisiert, Ausbildung, Training und die Ausrüstungen – die freilich einige Tausend Euro kosten kann – seien viel besser als in den Anfangsjahren. «Das sieht man auch an der Statistik: Die Jump-Zahlen steigen, während die Zahl der Unfälle sinkt.»

Der Traum vom Fliegen: Er ist so alt wie die Menschheit. Und eine gehörige Portion Übermut war oft dabei. Ikarus, so die griechische Mythologie, konnte mit Federn fliegen, die von Wachs zusammengehalten wurden. Doch er hörte nicht auf die Warnung seines Vaters und flog zu dicht an die Sonne heran. Das Wachs schmolz, er stürzte ins Meer.

Franz Reichelt gilt als ein Urahn der Wingsuit-Springer. Am 4. Februar 1912 stieg der österreichisch-französische Schneider mit seinem Fallschirm-Modell, das an einen Fledermaus-Anzug erinnerte, auf die erste Plattform des Eiffelturms. Aus 57 Metern stürzte er, statt sanft zu schweben, innerhalb von vier Sekunden in den Tod.

Die Angst und die Einstellung: Für den Münchner Juristen Walter Hilscher geht es auch um den Traum vom Fliegen, aber nicht nur. Basejumping hat für ihn etwas mit Lebenseinstellung zu tun. Angst gehöre dazu. «Man trainiert, aber die Frage ist, ob man die Angst überhaupt überwinden will oder ob man nicht eher mit ihr umgehen will.»

Heutzutage, so Hilscher, erlebe er meistens Leute «mit einer Versicherungsmentalität, die überall Vollkaskoschutz erwarten». Dass jemand die volle Verantwortung für sein Tun übernimmt, sei seltener geworden. «Beim Basejumping ist das noch anders. Ich muss das Risiko allein kalkulieren. Aber ich muss nicht auf 100 Prozent gehen, ich kann es bei 70 oder 80 Prozent belassen.» Und der Lohn? Manchmal fällt er simpel aus: 2003 wäre einer seiner ersten Basesprünge fast missglückt, berichtet Hilscher. Erst kurz vor dem Boden habe er eine Fallschirmstörung beseitigen können. «Danach habe ich eine Semmel mit Käse gegessen – nichts hat mir je wieder so gut geschmeckt.»

Thomas Burmeister, dpa