23.03.2016 In Haltern erinnern schwarze Trauerbänder am Ortsschild an die Toten der Germanwings-Katastrophe. Die Absturzstelle selbst ist ein stiller, leerer Ort in den französischen Alpen. Eine Spurensuche ein Jahr nach dem Unglück. Haltern/Le Vernet (dpa) – Am nächsten Tag wäre Elena Bleß 16 geworden. Mit ihren Geburtstagsgästen hätte sie über den Schüleraustausch in Spanien gesprochen. […]

23.03.2016

In Haltern erinnern schwarze Trauerbänder am Ortsschild an die Toten der Germanwings-Katastrophe. Die Absturzstelle selbst ist ein stiller, leerer Ort in den französischen Alpen. Eine Spurensuche ein Jahr nach dem Unglück.

Haltern/Le Vernet (dpa) – Am nächsten Tag wäre Elena Bleß 16 geworden. Mit ihren Geburtstagsgästen hätte sie über den Schüleraustausch in Spanien gesprochen. Wieder daheim, hätte sie ihr Kaninchen im Garten begrüßt. Sie wäre nach oben gegangen in ihr Zimmer – über die Treppe mit den Stufen in den Farben des Regenbogens. Vielleicht hätte sie dabei zwei Stufen auf einmal genommen, übermüdet, euphorisch – so wie viele Jugendliche nach Klassenfahrten.

Wäre sie nicht gestorben am 24. März des vergangenen Jahres. So wie 149 andere Menschen beim Absturz des Germanwings-Fluges 4U9525 in den französischen Alpen. Copilot Andreas Lubitz hatte den Airbus auf Todeskurs gebracht. Er durfte trotz langer Krankengeschichte fliegen.

Eine Treppe mit bunten Regenbogenstufen ist jetzt auch in Elenas Grabstein eingearbeitet, auf dem Friedhof von Haltern am See im Norden des Ruhrgebiets.

Im Wohnzimmer von Elenas Familie steht in einem weißen Rahmen ein Porträtfoto des dunkelhaarigen Mädchens auf dem Boden. Davor brennt eine weiße Kerze. «Das Bild stand auch bei der Beerdigung in der Kirche», sagt ihre Mutter Annette Bleß. «Es ist wenige Tage vor ihrem Tod im Badeort Sitges gemacht worden. Wir haben es von ihr über WhatsApp bekommen.» Elena lacht fröhlich in die Handykamera.

Annette Bleß ist 52 Jahre alt, Lehrerin für Französisch und Latein in der Nachbarstadt Marl. Eine freundliche Frau. Nie verliert sie im Gespräch die Fassung. Sie spricht ernst, ohne Bitterkeit.

Sie und ihr Mann haben einen Monat nach der Katastrophe eine Stiftung gegründet. Sie trägt den Namen der Tochter. Die Stiftung unterstützt Schulen bei Austausch-Programmen. Schüler bekommen bei Berufspraktika im Ausland einen Zuschuss. Elena war damals mit 15 anderen Mädchen und Jungen aus Haltern auf dem Rückflug aus Barcelona gewesen, begleitet von 2 Lehrerinnen.

«Wir fanden es vernünftig, dass die Lufthansa zahlt, aber wir wollten es nicht für uns als persönlichen Vorteil haben. Wir wollten etwas tun, um an Elena zu erinnern. Und wir wollten auch gerne etwas Positives zur Fortführung von Austauschprogrammen machen nach diesem schrecklichen Ereignis.»

Der Schrecken der Katastrophe ist auch tausend Kilometer von Haltern entfernt immer noch spürbar. Im Alpendorf Le Vernet, in der Nähe des Unglückshangs. «Wir hinken noch ein bisschen durch das Leben, wir sind angeschlagen», sagt François Balique. Er ist seit 39 Jahren dort Bürgermeister. Balique lebt und arbeitet als Anwalt auch einen Teil der Zeit in Paris. Ein Zupacker, hemdsärmelig, zugewandt. Der Ort Le Vernet mit seinen 130 Bewohnern sollte den neuen Alltag nach dem Unfall akzeptieren, findet Balique. «Es ist nicht immer einfach, damit umzugehen, auch für die jungen Leute im Dorf.»

In Le Vernet fehlt der Nachwuchs schon lange, Jüngere ziehen weg. Einer der letzten hat noch «Nirvana» und «Rap hard» auf eines der verfallenden Häuser gesprüht. «Le Vernet ist ein altes Dorf, wir sind arm, wir werden es bleiben», meint Balique. Den Familien der Opfer wollen die Dorfbewohner Nähe geben: «Wir öffnen unsere Herzen, die Türen, die Stätten.» Auf dem katholischen Friedhof ist auch ein Opfer muslimischen Glaubens begraben.

Fremde werden im Dorf sofort angesprochen. Die 150 Toten der Germanwings-Katastrophe kamen aus vielen Ländern – die meisten aus Deutschland (72) und Spanien (51). Ein alter Herr hält an und steigt aus seinem Wagen. «Ich habe Ihr deutsches Autokennzeichen gesehen. Suchen Sie die Leute von der Lufthansa? Die Gedenkstätte?», fragt der 76-jährige Jean-Marcel. «Wir achten jetzt mehr auf Fremde, die hierherkommen. Wir sind dem Absturzort am nächsten, an dem die Menschen ihre Angehörigen verloren haben.»

Die «Leute von der Lufthansa», die Jean-Marcel meint, sitzen gleich neben einer kleinen Gedenkstätte für den Absturz. Seit einem Jahr betreuen die Mitarbeiter der Fluggesellschaft Angehörige, die hierher kommen. Darüber sprechen dürfen sie nicht. Sowohl Germanwings als auch der Mutterkonzern Lufthansa sind vorsichtig. In den USA droht ein möglicherweise kostspieliger Prozess um die Verantwortung für das Drama. Da kann jedes Wort wichtig werden.

Die Gedenkstätte in Le Vernet liegt am Rande des Dorfes: ein Friedhofsgrabstein mit Inschrift und einer grünen Hecke. «Es war ein Provisorium. Aber die Stelle hat ihre Dynamik entwickelt, das ist jetzt historisch. Das wollen wir jetzt nicht mehr ändern», sagt Bürgermeister Balique. Von hier aus ist die Unfallstelle am Col de Mariaud hinter der nächsten Bergkuppe nur zu erahnen.

Wenige Meter weiter ist ein Raum in einer Herberge zum Gedenkzimmer für die Angehörigen geworden. Vor den Wänden stehen dicht bepackte Tische: Bilder der Opfer, Kerzen, Briefe von Geschwistern, Erinnerungen der Mitschüler, Kinderzeichnungen, Kuscheltiere, Engel, Herzen. Dokumente der Trauer, Leere, Hilflosigkeit.

Auch im Joseph-König-Gymnasium in Haltern mit etwa 1250 Schülern, wo Elena und ihre Reisegruppe herkamen, gibt es einen ähnlichen Raum. «Ein kleiner Kursraum, um den Schülern die Möglichkeit zu geben, sich dort in Pausen oder Freistunden in einem vertrauten Rahmen hinzusetzen. Dort sind alle Dinge, die uns zugeschickt wurden», sagt Schulleiter Ulrich Wessel. Der Raum ist voll – wie in Le Vernet.

Mehr als 50 Kondolenzbücher sind auf der Fensterbank aneinandergereiht. Daneben stehen mehrere Kisten mit Beileidsschreiben. Eine Schule in den USA hat ein Transparent gestaltet: Hunderte haben unterschrieben. «Wir vermissen Euch», steht auf einem anderen Plakat. Fotos dürfen nicht gemacht werden. Darum haben die Eltern den Schulleiter gebeten.

Wessel ist hoch gewachsen, schlank, 57 Jahre alt. Im vergangenen Jahr war er oft in den Medien: unaufdringlich, menschlich. Immer versuchte er, das Unfassbare mit Worten zu begleiten. Die Katastrophe änderte sein Leben.

Wessel sagt fast immer Katastrophe, nicht bloß Unglück oder Absturz. Dem Interview schickt er vorweg: «Es gibt 149 Opfer und nicht nur die 18 in Haltern.» Wichtig für den Schulleiter ist: «Haltern hat zwar der Katastrophe das Gesicht gegeben und besonders diese Schule. Aber auch in Haltern ist das eigentliche Leid hinter den 18 Haustüren und nicht hinter der Schultür.»

Den Eltern gehe es «sehr unterschiedlich», sagt Annette Bleß. «Es war so, dass viele lange Zeit gar nicht arbeiten konnten. Es ist jedenfalls nicht so, dass die Trauer jetzt schon erträglicher geworden wäre. Es ist nach wie vor sehr schwer, und gerade jetzt zum Jahrestag hin ist es besonders belastend.»

Was Elenas Eltern Halt gibt, ist die christliche Hoffnung. «Unser größter Wunsch ist sicherlich, dass wir sie wiedersehen», sagt Elenas Mutter. «Das können Sie auch gerne schreiben, weil ich denke, dass es wichtig ist, dass man auch so etwas vermittelt, dass nämlich der Glaube auch eine Quelle der Kraft ist.»

Trauernden Mut und einen Ort für Gefühle geben, möchte auch das französische 195-Einwohner-Dorf Prads-Haute-Bléone. Der Berghang, an dem die Maschine in viele kleine Teile zerschellte, liegt zwar näher an Le Vernet. Doch offiziell gehört er zu Prads. «149. Es sind 149 Stäbe», sagt Bürgermeister Bernard Bartolini. Der Copilot ist nicht aufgenommen in die Gedenkstätte. «Wir haben das im Kommunalrat diskutiert und so beschlossen.»

Der 64-Jährige weist den Weg über eine steile Schotterstraße. «Wir haben nichts Extravagantes geschaffen, nichts Spektakuläres versucht, wir haben das mit den Herzen gemacht, die Menschen, die Familien empfangen. Alles in großer Einfachheit.»

In rund 1500 Metern Höhe hat der französische Künstler Eric Klein die Gedenkstätte aus den mehr als drei Meter langen Metallstäben geschaffen. Bei Wind schlagen sie aneinander. Das Geräusch ist weit zu hören. Die Absturzstelle selbst liegt hinter der nächsten Kuppe. Sie ist ein stiller, leerer Ort. Anfang März liegt noch Schnee. Beim Unglück am 24. März vor einem Jahr war schon alles weggetaut.

Zwei Mal waren auch Elenas Eltern bisher in der Region. Zum Gedenken hatte die Germanwings-Muttergesellschaft Lufthansa für Angehörige einen Besuch organisiert. Auch das Ehepaar Bleß wollte wieder hinfahren, «und dann im Sommer noch einmal in Ruhe», sagt die Mutter.

Noch am Todestag selbst will das Paar wieder zurückfliegen, weil die Eltern zum Geburtstag der Tochter in Haltern sein wollen. Am 25. März wäre Elena 17 Jahre alt geworden. «Wir wollen dann auch morgens in den Karfreitagsgottesdienst gehen.»

Auch die Schule hat einen öffentlichen Gedenkort: Vor dem Gebäude steht eine große Stahlplatte an einer Seite des Pausenhofs. Aus dem Stahl sind die Namen der Opfer ausgeschnitten. Einige Bänke stehen davor. «Da sitzen in den Pausen Schüler. Und das ist das, was ich immer gut finde: Es herrscht hier nicht so ein Zwang zum Schweigen, zur Andacht. Es wird hier wieder gelacht, gescherzt», sagt Schulleiter Wessel.

Die französischen Katastrophenhelfer versuchen ebenfalls, Alltag und Erinnerung so gut es geht zusammenzubringen. Ihre Gendarmerie-Station liegt in Seyne-les-Alpes, gut zehn Kilometer von Le Vernet entfernt. In den Büros mit abgesessenen Stühlen und alten Rechnern hängt eine Aufnahme der Unfallstelle. Sie dominiert den Raum. Das Foto entstand kurz nach dem Absturz. Der Eindruck unfassbar vieler Teile in kleinsten Bruchstücken ging um die Welt.

Jean-Marc Davin und José Gengembre zeigen auf bestimmte Stellen am Berg. Die Gendarmen gehörten zum Team, das mit Kletterseilen gesichert die Unfallregion untersuchte, Beweise sicherte, Überreste barg. Die roten Fähnchen überall auf dem Bild? «Die markieren Fundstellen von Leichenteilen.» Schweigen.

«Wir sind kurz nach dem Crash die Unfallstelle abgeflogen. Da waren nur ein paar kleine Feuer zu sehen, keine Explosion. Aber eins war gleich klar: Das ist eine Katastrophe», schildert Davin.

In Seyne-les-Alpes zwängt sich auch ein Flugfeld zwischen die Bergzüge. Die Piste ist eher Acker als Rasen. Das Feld war nach dem Absturz wochenlang Zentrum der Einsätze für die Arbeiten am Berg.

Hier starteten die Hubschrauber mit den Mannschaften, holten sich Kanzlerin Angela Merkel und Präsident François Hollande erste Informationen über die Katastrophe, standen die Laboratorien für Analysen der Leichenteile.

Am Ende der Flugpiste führt ein Weg vorbei an einer Halle aus Holz, Blech und Plexiglas. Neben Gestrüpp und Kiesresten ist eine rostige Tür zu sehen. Dahinter lagern auf knapp 500 Quadratmetern die Reste des Flugzeugs.

Die ermittelnde Staatsanwaltschaft in der Mittelmeerstadt Marseille hat die Schlüsselgewalt. Doch sie verlässt sich nicht auf Metallschloss und grellgelb markierte Versiegelung der Gendarmerie. Eine Baggerschaufel verrammelt die Tür – wer weiß, wann die Teile zu wichtigen Beweismitteln in einem Prozess werden könnten.

«Wir haben einiges zurückbekommen, ihren Pass zum Beispiel und ihr Portemonnaie, was beschädigt war und sehr stark nach Kerosin roch und immer noch riecht», sagt Elenas Mutter in Haltern. Die Stücke liegen jetzt oben: Elenas Zimmer haben die Eltern so gelassen wie früher.

In der Stadt mit ihren rund 38 500 Einwohnern kündigt sich im März allmählich wieder der Frühling an. Das Unglück hat Haltern verändert, sagt Bürgermeister Bodo Klimpel (CDU). «Es gehört jetzt auch zu unserer Stadtgeschichte. Auch nach einem Jahr ist die Trauer nach wie vor vorhanden.» Auf dem Friedhof hat die Stadt eine Gedenkstätte gebaut. Eine Rasenfläche mit einem Gehweg in U-Form, 18 Zierapfelbäumen und einem großen Gedenkstein mit den Namen – ein Klassenzimmer.

Auf den Straßen selbst mögen nur wenige Passanten sagen, wie stark der Absturz sie noch bewegt. Ein junger Familienvater erzählt, dass er die Stimmung in der Innenstadt nach dem Unglück für mehrere Monate gespenstisch fand. «Es hat keiner geredet. Es war wie im Wartezimmer vom Arzt.» Andere widersprechen. So ruhig sei es nicht gewesen.

Wer mit dem Auto ankommt, sieht an einigen gelben Ortsschildern immer noch schwarze Bänder flattern. Auf einen Stromkasten in der Nähe der Schule ist groß eine schwarze Trauerschleife gemalt. Beides wird noch lange bleiben.

Gerd Roth und Helge Toben, dpa