Pingpong mit der Politik – wie Arbeitsrichter Lücken schließen
26.09.2016 Ihre Entscheidungen betreffen Hunderttausende Arbeitnehmer. Es geht um Streiks, die Flughäfen lahmlegen, Auswüchse der Leiharbeit oder Mindeststandards bei Löhnen. Wie groß ist die Macht der höchsten deutschen Arbeitsrichter? Erfurt (dpa) – Sie haben das letzte Wort, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer streiten: Mehr als 2300 Fälle landen jährlich bei den Bundesarbeitsrichtern in Erfurt. Dabei geht […]
26.09.2016
Ihre Entscheidungen betreffen Hunderttausende Arbeitnehmer. Es geht um Streiks, die Flughäfen lahmlegen, Auswüchse der Leiharbeit oder Mindeststandards bei Löhnen. Wie groß ist die Macht der höchsten deutschen Arbeitsrichter?
Erfurt (dpa) – Sie haben das letzte Wort, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer streiten: Mehr als 2300 Fälle landen jährlich bei den Bundesarbeitsrichtern in Erfurt. Dabei geht es nicht nur um die Höhe von Nachtarbeitzuschlägen, Kündigungsschutzklagen, die Interpretation von Tarifverträgen oder Fälle von Altersdiskriminierung. Die Richter in den dunkelroten Roben sind auch die letzte Instanz und eine Art Reparaturbetrieb für Probleme in der Arbeitswelt, für die die Politik keine oder nur ungenügende gesetzliche Antworten hat.
«Der Wille des Gesetzgebers, im Arbeitsrecht etwas zu regeln, ist wenig ausgeprägt», findet Helga Nielebock, Leiterin der Rechtsabteilung beim DGB-Bundesvorstand. Dadurch sei der Spielraum für die Arbeitsgerichte groß. «Sie müssen die Lücken füllen.» Grund für die Zurückhaltung der Politik sei das Konfliktpotenzial, das fast jede Regelung mit sich bringe.
Beispiel Mindestlohngesetz: 8,50 Euro pro Stunde müssen Arbeitnehmer seit Anfang 2015 wenigstens bekommen. Eigentlich soll das Gesetz Millionen von Arbeitnehmern mehr Geld bringen. Das erste Mindestlohnurteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) relativiert diese Hoffnung jedoch.
Danach können Arbeitgeber in bestimmten Fällen Urlaubs- und Weihnachtsgeld anrechnen, um die Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde einzuhalten. Das gilt dann, wenn die Sonderzahlung wie der normale Arbeitslohn zu verstehen ist – also verlässlich und beispielsweise aufgeteilt auf die zwölf Monate in der Gehaltsrechnung auftaucht. «Der Gesetzgeber hat sich über die Anrechnung solcher Zahlungen relativ wenige Gedanken gemacht», meint Arbeitsrechtsprofessor Wolfgang Däubler. Nun sorgten sie für den meisten Streit.
Auf das BAG-Urteil reagierten einige Politiker prompt. Ende vergangener Woche verlangten Arbeitsminister aus Brandenburg, Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen im Bundesrat Korrekturen im Gesetz von der Bundesregierung. Dieser Pingpong-Effekt durch BAG-Urteile sei nicht die Regel, «aber es gibt immer wieder solche Wechselwirkungen», sagt DGB-Juristin Nielebock. Sehr dezent agieren die Bundesarbeitsrichter bei ihren Forderungen an die Politik. «Richter sprechen durch unsere Urteile», sagt BAG-Sprecher Waldemar Reinfelder.
Vielfach reagiert die Politik auf Probleme, die auch durch Urteile aus Erfurt für gesellschaftliche Debatten sorgen, Jahre später. So dämmten die Bundesrichter mit Urteilen zwischen 2010 und 2013 Auswüchse der Leiharbeit ein – von Dumpingtarifverträgen einiger Pseudogewerkschaften bis zur Zwei-Klassen-Gesellschaft von Dauer-Leiharbeitern und Stammbelegschaften in Unternehmen. Seit der vergangenen Woche liegt dem Bundestag ein Gesetz vor, das dem Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen einen Riegel vorschieben soll.
Für die Präzedenzfälle für Grundsatzurteile müssen Kläger sorgen, die sich bis in die letzte Instanz vorkämpfen. «Diese oft langwierigen Verfahren sind nicht leicht durchzuhalten», weiß Verdi-Chefjustiziarin Martina Trümner. «Deshalb forderten wir als Gewerkschaften ein Verbandsklagerecht an bestimmten Stellen.»
Besonders groß ist der Spielraum für die Arbeitsrichter beim Thema Streik. «Das ist Richterrecht. Die Regeln machen die Gerichte. Da traut sich der Gesetzgeber nicht ran», sagt der Bonner Arbeitsrechtler Gregor Thüsing. Auch beim Streikrecht sorgte das BAG in diesem Jahr für Aufsehen.
Der Erste Senat mit BAG-Präsidentin Ingrid Schmidt wertete einen Streik der Gewerkschaft der Flugsicherung am Frankfurter Flughafen – auch zur Überraschung von Fachleuten – als rechtswidrig. Dem Betreiber Fraport steht damit Schadenersatz zu – es geht um bis zu 5,2 Millionen Euro. Schmidt machte deutlich, bereits ein einziger Verstoß gegen die Friedenspflicht kann einen Arbeitskampf rechtswidrig machen.
Grundsätzlich geht es beim höchsten deutschen Arbeitsgericht auch zu, wenn eher private Dinge wie Hochzeitstermine verhandelt werden. Die Richter kippten die sogenannte «Spätehen»-Klausel: Danach darf eine betriebliche Witwenversorgung nicht von einem Hochzeitstermin vor dem 60. Lebensjahr abhängig gemacht werden. Nach dem Urteil, so ein Richter, klingelte das Telefon besonders oft.
Simone Rothe, dpa