Warschau, 08. April 2016 Auch sechs Jahre nach der Flugzeugkatastrophe von Smolensk kommt Polen nicht zu Ruhe. Anklagen gegen Russland und Anschlagstheorien wurden mit Amtsbeginn der nationalkonservativen Regierung lauter. Es gibt neue Ermittlungen. Sechs Jahre nach dem Tod des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski beim Absturz seines Flugzeugs über dem russischen Smolensk spaltet die Katastrophe Polen […]

Warschau, 08. April 2016

Auch sechs Jahre nach der Flugzeugkatastrophe von Smolensk kommt Polen nicht zu Ruhe.

Anklagen gegen Russland und Anschlagstheorien wurden mit Amtsbeginn der nationalkonservativen Regierung lauter. Es gibt neue Ermittlungen.

Sechs Jahre nach dem Tod des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski beim Absturz seines Flugzeugs über dem russischen Smolensk spaltet die Katastrophe Polen tiefer denn je. Am 10. April 2010, als die Tupolew TU-154 beim Landeanflug im Nebel mit 96 Menschen an Bord verunglückte, verlor Polen den Führungsstab seiner Armee, fast das gesamte Parlamentspräsidium, Abgeordnete und Minister. Die Trauer einte die Polen über Parteigrenzen hinweg.

Doch das ist lange her. Längst ist der Blick auf das Unglück zum Politikum geworden. Seit in Polen die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) regiert, ist Smolensk wieder in die Tagespolitik gerückt.

Für PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski war der Flugzeugabsturz auch eine ganz persönliche Tragödie: Der tote Präsident war sein Zwillingsbruder, sein engster Mitarbeiter und vielleicht der einzige Mensch in der polnischen Politik, dem Jaroslaw Kaczynski wirklich vertraute. Dass der Tod der 96 Menschen im Untersuchungsbericht des damaligen Innenministers Jerzy Miller als Unfall erklärt wurde, der durch menschliches Versagen und technische Mängel verursacht wurde, kann und will Kaczynski bis heute nicht akzeptieren.

„Es war ein terroristischer Akt“, wiederholte auch der derzeitige Verteidigungsminister Antoni Macierewicz vor wenigen Wochen einmal mehr. Macierewicz hatte jahrelang in Konkurrenz zu den offiziellen Ermittlungen eigene Untersuchungen betrieben und regelmäßig Ergebnisse präsentiert, die seine Anschlagstheorie untermauern sollte. So behauptete er, es habe vor dem Absturz mehrere Explosionen an Bord des Flugzeugs gegeben. Bei der Untersuchung der Black Box konnte das nicht bestätigt werden.

Smolensk darf offenbar kein Unfall sein. Die Ursache der Katastrophe müsse endlich erhellt werden, betonte Regierungschefin Beata Szydlo gleich in den ersten Wochen im Amt. Im Februar wurde eine neue Untersuchungskommission wurde zusammengestellt. Sie soll Vorgänge aufklären, die laut Macierewicz bisher nicht untersucht wurden und den Versuchen ein Ende setzen, den „Zugang zur Wahrheit zu verhindern.“

„Endlich tut der polnische Staat seine Pflicht“, sagte Ewa Blasik, Witwe des Luftwaffenchefs Andrzej Blasik. Die bisherigen Ermittler hatten seine Stimme bei den Aufnahmen der Black Box identifiziert. Doch die PiS-Anhänger lehnen die Vermutung, dass Blasik unmittelbar vor dem Absturz im Cockpit war und die Piloten nicht wagten, angesichts schlechter Wetterbedingungen entgegen besseren Wissens auf einen anderen Flughafen auszuweichen, strikt ab.

Die staatsanwaltlichen Ermittlungen wurden ebenfalls mit neuen Juristen aufgenommen. Die bisherigen Ermittler wurden zum Teil an entlegene Behörden versetzt. Medienberichten zufolge wurden die Experten, die Blasiks Stimme im Cockpit identifizierten, unter Druck gesetzt.

Auch rechtliche Konsequenzen gibt es bereits: Seit Ende März müssen sich mehrere Mitarbeiter der Staatskanzlei des damaligen Regierungschefs Donald Tusk in Warschau vor Gericht verantworten. In dem Zivilverfahren auf Antrag mehrerer Opferfamilien werden ihnen Versäumnisse bei der Vorbereitung des Flugs vorgeworfen. Doch sie sind letztlich nur die Stellvertreter-Sündenböcke: Bei den regelmäßigen Smolensk-Gedenkdemonstrationen sind immer wieder Rufe wie „Tusk, du Mörder“ zu hören oder „Stellt Tusk vor Gericht.“

Am Jahrestag selbst versammeln sich einmal mehr diejenigen vor dem Warschauer Präsidentenpalast, die meinen, die Katastrophe sei noch immer nicht aufgeklärt. Das regierungsnahe Wochenmagazin „wSieci“ widmete dem Thema Smolensk in dieser Woche eine Sonderausgabe mit 132 Seiten – voll mit der Trauer der Angehörigen, Vorwürfen gegen Russland und die Regierung Tusk. Angesichts der Demonstrationen zehntausender Gegner der nationalkonservativen Regierung in den vergangenen Monaten soll der Tag des Gedenkens aber auch eine Geste der Unterstützung für die Warschauer Regierung sein.

Eva Krafczyk, dpa