Flugunfall-Untersucher ist Tröster und Technik-Experte zugleich

Braunschweig, 06. Mai 2016 Die Germanwings-Maschine in Frankreich, Transportflugzeuge oder ein einzelner Sportflieger: Wenn Flugzeuge abstürzen, ist Johann Reuß zur Stelle und analysiert die Katastrophe. Mit seinem Wissen steht er auch Angehörigen zur Seite – keine leichte Aufgabe. Der Sitz der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) in Braunschweig ist ein nüchternes Gebäude. Dunkler Teppich, Anmeldung hinter […]
Braunschweig, 06. Mai 2016
Die Germanwings-Maschine in Frankreich, Transportflugzeuge oder ein einzelner Sportflieger: Wenn Flugzeuge abstürzen, ist Johann Reuß zur Stelle und analysiert die Katastrophe. Mit seinem Wissen steht er auch Angehörigen zur Seite – keine leichte Aufgabe.
Der Sitz der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) in Braunschweig ist ein nüchternes Gebäude. Dunkler Teppich, Anmeldung hinter einer Glasscheibe, ein schmaler Flur, von dem die Büros abgehen. Im Besprechungszimmer wartet Johann Reuß. An der Wand hängt ein Porträt von Bundespräsident Joachim Gauck. Alles ist nüchtern, alles ist sachlich.
Wer sich wie Reuß täglich mit dem Grauen von Flugzeugabstürzen beschäftigt, braucht das vermutlich. Der 59-Jährige ist einer von 18 Flugunfalluntersuchern der BFU und stellvertretender Direktor der Behörde. Stürzt in Deutschland ein Flugzeug ab oder passiert irgendwo auf der Welt ein Flugunfall mit deutscher Beteiligung, sind die Untersucher gefragt. „Unsere Aufgabe ist es, bei einem Unfall herauszufinden, was passiert ist, warum es passiert ist und was man tun kann, damit so etwas nicht noch mal geschieht“, sagt Reuß.
Tritt der Experte mit den Untersuchungsergebnissen an die Öffentlichkeit, geht es um Technik und betriebliche Abläufe. Um die menschlichen Tragödien geht es nicht. Und doch hat er als Unfalluntersucher noch eine zweite große Aufgabe, die eher hinter den Kulissen abläuft: Er betreut die Hinterbliebenen, unterstützt sie mit seinem Wissen. „Das ist die andere Seite. Eine Aufgabenstellung, die ganz, ganz anders geartet ist“, sagt Reuß. „Man befindet sich plötzlich in einer Wunde.“ Seit 2010 schreibt eine EU-Vorgabe diese Aufgabe offiziell vor.
Wut, Trauer, Verzweiflung – jeder Angehörige regiert anders auf einen Verlust. Manchmal machen sie Reuß mitverantwortlich für den Unfall, manchmal sind sie einfach froh, dass jemand da ist. Seine Erfahrung helfe ihm in solchen Momenten, sagt der 59-Jährige. „Wir Unfalluntersucher wissen, wie schlimm die Situation ist. Aber nachempfinden können wir sie in Wirklichkeit nicht. So schlimm ist sie.“
Wer einen Freund oder ein Familienmitglied bei einem Absturz verloren hat, möchte alles ganz genau wissen. „Hinterbliebene wollen hören: Was ist in den letzten Minuten vor dem Absturz passiert? Wie haben die Menschen diese Zeit wahrgenommen?“, sagt Reuß. Seine Aufgabe sei es nicht, Schuldige zu benennen, betont er. Dafür seien andere verantwortlich. Doch für die Angehörigen sei das oft schwer zu verstehen. „Es macht sie manchmal auch sauer. Die Herausforderung ist, mit solchen Situationen umzugehen.“
Vor knapp 30 Jahren hat Reuß als Unfalluntersucher angefangen. Damals hatte der Elektroingenieur selbst eine Fluglizenz. Heute hat er Probleme mit den Augen und fliegt nicht mehr. In den drei Jahrzehnten im Beruf hat er abgestürzte Sportflieger ebenso untersucht wie Transportflugzeuge und Passagiermaschinen. Bei der Untersuchung des Absturzes der Germanwings-Maschine mit 150 Toten im vergangenen Jahr war Reuß der deutsche Vertreter in einem internationalen Team.
Ihm gehe es vor allem darum, den Flugverkehr sicherer zu machen, sagt er. „Unfälle aufklären und vermeiden“ – das treibt ihn an. Dass er es bei seiner Aufgabe auch mit viel Leid zu tun hat, gehört dazu.
Schon an der Unfallstelle nimmt Reuß oft Kontakt zu den Angehörigen auf, begleitet sie auch weiter. Bevor abschließend ein Untersuchungsbericht vorgelegt wird, informiert er die Hinterbliebenen über den Inhalt.
Die Unfalluntersuchung sei insgesamt sehr interessant, sagt Reuß. Aber: „Für das komplette Unfallszenario gilt auch: Das sind Situationen, die man eigentlich gar nicht haben möchte.“
Den Umgang mit den Hinterbliebenen lernen die Unfalluntersucher, dieser Aspekt macht aber nur einen kleinen Teil der Ausbildung aus. Umso wichtiger sei für ihn die Arbeit der Seelsorger, sagt Reuß. „Sie wissen genau, wie man mit Katastrophen umgeht. Sie sind unser Bindeglied und unsere absolute Stütze.“
Rebecca Krizak, dpa