Von Ochsenaugen und Pilzdächern: Architektur in Georgien
Maurischer Stil, Brutalismus und Moderne: Wer glaubt, in Georgien empfangen einen nur Plattenbauten aus Sowjetzeiten, der täuscht sich. Das Land bietet eine Vielfalt architektonischer Denkmäler. Tiflis (dpa/tmn) – Es gibt Momente, in denen sich die Jahrhunderte zu überlagern scheinen. Oft geschieht dies durch die Architektur – und besonders häufig sind solche Augenblicke in Georgien. Ob […]
Tiflis (dpa/tmn) – Es gibt Momente, in denen sich die Jahrhunderte zu überlagern scheinen. Oft geschieht dies durch die Architektur – und besonders häufig sind solche Augenblicke in Georgien.
Ob Römer, Araber, Perser oder Russen, viele Völker haben versucht, in dem Land am Kaukasus Fuß zu fassen. Und so springen einem besonders im Zentrum der Hauptstadt Tiflis, aber auch anderswo, Baustile aus verschiedenen Epochen gleichzeitig ins Auge.
Das alte Tiflis
Hoch oben auf dem Solaki-Gebirgskamm über der Altstadt von Tiflis thront die mittelalterliche Burgruine Narikala. Die Festung stammt aus dem 3. Jahrhundert nach Christus und wurde unter persischer Herrschaft erbaut. Die meisten der noch erhaltenen Gebäudereste stammen aus dem 8. Jahrhundert.
Unterhalb der Burg liegt die Altstadt. Im Bethlehem-Viertel tragen viele Wohnhäuser die für Georgien typischen Holzbalkone, die sich mit kunstvollen Ornamenten über mehrere Etagen ausbreiten. Häuser dieser Art findet man auch in anderen georgischen Städten wie Telawi oder Sighnaghi. Teilweise wurden die Häuser in jüngster Zeit aufwendig saniert. Andere wiederum sind derart baufällig, dass sie mit Hilfe von Stahlträgern vor dem endgültigen Zerfall geschützt werden.
Auch auf der Stadtmauer aus dem 17. Jahrhundert sind bis zu dreigeschossige Häuser dieser Art aufgesetzt. Das Mauerwerk und die dazugehörigen Häuser wurden in den 1970er Jahren restauriert.
Russischer Klassizismus und neomaurischer Stil
Zeitenwechsel jenseits der Stadtmauer an der Baratschwili-Straße. Georgien musste sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder gegen Angriffe verteidigen. Ende des 18. Jahrhunderts rief das Land Russland zu Hilfe, als Tiflis von Schah Aga Khan Mohammed überfallen wurde. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Provinzen in das Russische Reich eingegliedert. 1844 wurde General-Feldmarschall Graf Michail Semjonowich Woronzow zum Vizekönig ernannt.
Woronzow wollte die Stadt nach westeuropäischem Vorbild aufbauen lassen. Aus dieser Zeit stammen die im Stil des russischen Klassizismus gebauten Häuser rund um den Freiheitsplatz. In der Mitte glänzt seit 2006 eine riesige Säule mit dem vergoldeten Heiligen Georg. Bis 1990 stand hier ein Lenin-Denkmal, das nach dem Zerfall der Sowjetunion von Einheimischen umgerissen wurde.
Das Rathaus am Freiheitsplatz wurde als Polizeipräsidium errichtet und in den 1880er Jahren von den Architekten Alexander Oserow und Paul Stern mit teils neomaurischen Elementen umgebaut. Ursprünglich war die Fassade in grün-weiß gestrichen, heute ist sie weiß-rosa.
Neobarock und Jugendstil
Vom Rathaus geht direkt der Rustaweli Boulevard ab, Flaniermeile und Hauptstraße von Tiflis. Dort stehen Prachtbauten aus dem 19. Jahrhundert im Stile europäischer Großstädte wie Paris oder Barcelona. Dazwischen das alte Parlamentsgebäude, das Institut für Georgische Literatur und das Gymnasium. Auch das Opernhaus befindet sich am Rustaweli Boulevard. Es wurde vom deutsch-baltischen Architekten Viktor Schröter aus Sankt Petersburg im neomaurischen Stil gebaut und 1875 fertiggestellt.
Das staatliche Akademie-Theater ist beheimatet in einem neobarocken Gebäude. Kornell Tatischtschew und Aleksander Szymkiewicz entwarfen den Prachtbau, der in den Jahren 1898-1901 erbaut wurde.
Die Fassade wird geschmückt durch Girlanden um die teils runden Fenster, der Eingang mit korinthischen Säulen und das Dach mit Ochsenaugen. Das Haus wurde 2016 aufwendig saniert.
Das Ende der Straße markiert ein großes Wohn- und Geschäftshaus (1913-1915) mit zahlreichen Jugendstil-Elementen an Giebeln, Erkern und Fenstern. Ein Kaufmann hatte Anfang des 20. Jahrhunderts den Architekten Mikolaj Obolonski mit dem Bau beauftragt, der sich über einen ganzen Straßenblock zieht.
Sowjetische Moderne
Etwas weiter stadtauswärts Richtung Schwarzmeerküste steht am Ufer der Kura das ehemalige Ministerium für Straßenbau von 1975. Unverkennbar ein Beispiel für sowjetischen Brutalismus mit seiner klaren Struktur aus geometrischen Formen und Sichtbeton.
Der Entwurf stammt von den Architekten Zurab Dschalagonia und George Tschachowa, der als Vizeminister für Straßenbau damals gleichzeitig Auftraggeber war. Seit 2011 sitzt in dem Gebäude mit den markant aufeinander gestapelten Riegeln die Georgische Staatsbank.
Hochhäuser im sozialistischen 70er-Jahre-Stil findet man vor allem in den Außenbezirken von Tiflis. Aber auch in anderen georgischen Städten – zum Beispiel in Josef Stalins Geburtstadt Gori oder in Rustawi – entstanden zu dieser Zeit funktionale Plattenbauten, um Wohnraum für möglichst viele Menschen zu schaffen.
Ultramoderne außerhalb von Tiflis
Nach dem Fall der Sowjetunion erklärte sich Georgien 1991 für unabhängig. Die politische Situation in der ehemaligen Sowjetrepublik war dennoch jahrelang unsicher. Es herrschten phasenweise bürgerkriegsähnliche Zustände, bis 2004 infolge der Rosenrevolution Micheil Saakaschwili mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt wurde. Saakaschwili wollte das Verwaltungssystem des Landes umgestalten und den Blick nach Europa richten. Dies sollte für die Georgier auch sichtbar werden in neuen Formen öffentlicher Gebäude.
Dazu holte er mehrere europäische Architekten ins Land, allen voran den deutschen Jürgen Mayer H. aus Berlin. Mayer gestaltete unter anderem in der Kleinstadt Mestia im Großen Kaukasus das Flughafengebäude in Form des Buchstabens J, mehrere Polizeistationen und Autobahn-Raststätten. Die Gebäude bestehen aus dreidimensionalen Betonelementen, die durchgehend an grafische Muster erinnern.
Das neue Tiflis
Weniger wuchtig wirkt das Innenministerium in Tiflis. Die Fassade besteht aus gerundetem Glas. Das wellenförmige Äußere bildet mit der anschließenden Grünfläche ein Ensemble. Im Inneren ist der Bau L-förmig angelegt. Entworfen wurde das Gebäude von dem Italiener Michele de Lucchi, genauso wie die Friedensbrücke, die in der Stadtmitte die beiden Ufer der Kura verbindet.
In der Nähe der Brücke liegt das nie eröffnete Kulturzentrum mit zwei überdimensionalen Röhren. Massimiliano und Doriana Fuksas haben das markante Gebäude entworfen – leider bis heute ein Rohbau.
Steht man am Ufer der Kura, kann man von dort das Bürgeramt sehen. Das Verwaltungsgebäude besteht aus sieben einzelnen, viergeschossigen Häusern. Die Konstruktion ist aus Stahlbeton mit angehängten Glasfassaden. Die Dächer erinnern an Pilze.
Industriecharme in Fabrika Tiflis
Wer all die Eindrücke bei einem guten Essen noch einmal Revue passieren lassen will, dem sei die Fabrika empfohlen. In dem Fabrikgebäude war zu Sowjetzeiten eine Großnäherei. Das Gebäude wurde aufwendig restauriert, die Außenfassade kaum verändert. Der Industriecharme ist auch im Innern nicht verloren gegangen.
Der Eingangsbereich lädt mit seinen meterhohen Sprossenfenstern, ausladenden Pflanzen und gemütliche Sofas zum Verweilen ein. Es gibt einen großen und grünen Innenhof. Beheimatet ist in dem großen Komplex ein Hostel mit 350 Betten. Es gibt Platz für Coworking, Ateliers, eine Schule für Design und ein gutes und nicht ganz günstiges Restaurant.
Info-Kasten: Georgien
Anreise: In der Vergangenheit gab es Nonstop-Flüge nach Tiflis von mehreren deutschen Flughäfen. Die Flugzeit beträgt etwa drei bis vier Stunden.
Einreise: Deutsche Urlauber brauchen kein Visum, aber einen gültigen Reisepass.
Währung: Der Georgische Lari. 1 Georgischer Lari entspricht etwa 0,29 Euro (Stand 3. Juli 2020).
Informationen: Georgian National Tourism (Tel.: +995 32 243 69 99, E-Mail:info@gnta.ge, www.gnta.ge).
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