Trauer zehn Jahre nach Überlinger Flugzeugabsturz
Überlingen Es ist ein schmerzhafter Tag der Erinnerung für die Hinterbliebenen gewesen. Vor zehn Jahren starben ihre Angehörigen bei der Flugzeugkatastrophe von Überlingen. Mit Freunden und Helfern haben die Familien nun an die 71 Opfer erinnert. Das Vorlesen dauert minutenlang. Name für Name wird an die Opfer der Flugzeugkatastrophe von Überlingen erinnert, Schüler stellen für […]
Überlingen
Es ist ein schmerzhafter Tag der Erinnerung für die Hinterbliebenen gewesen. Vor zehn Jahren starben ihre Angehörigen bei der Flugzeugkatastrophe von Überlingen. Mit Freunden und Helfern haben die Familien nun an die 71 Opfer erinnert.
Das Vorlesen dauert minutenlang. Name für Name wird an die Opfer der Flugzeugkatastrophe von Überlingen erinnert, Schüler stellen für jeden Toten ein Kerzenlicht auf den Boden. 71 Menschen sind bei dem Zusammenstoß eines DHL-Flugzeugs mit einer russischen Tupolew-Passagiermaschine am 1. Juli 2002 kurz vor Mitternacht ums Leben gekommen. Unter ihnen waren auch mehrere Dutzend Schulkinder aus der Teilrepublik Baschkortostan, die zwei Wochen Urlaub in Spanien machen wollten.
Zehn Jahre später, am Jahrestag des Unglücks, erhellten Kerzenlichter die Gedenkstätte im Überlinger Ortsteil Brachenreuthe. Ihr Schein lag auf den Gesichtern der Angehörigen. Der Schmerz – das war den Familien anzusehen – ist noch immer groß. Viele hielten sich an den Händen, immer wieder war ein leises Schluchzen zu hören. Für sie seien die Jahre doppelt so lang und doppelt so schwer gewesen, sagt Sulfat Chammatov stellvertretend für alle Hinterbliebenen. Weil sie lange Zeit nicht verstehen konnten, warum ihnen und ihren Kindern so etwas passiert sei. «Wir haben nur langsam gelernt, ohne unsere Liebsten zu leben.»
Am frühen Sonntagmorgen waren die Angehörigen am Flughafen in Friedrichshafen gelandet, nach einem Mittagessen besuchten viele noch einmal privat die Absturzstellen in der Bodenseeregion. Den Auftakt der Gedenkveranstaltungen machte am Nachmittag ein Gottesdienst im Owinger Ortsteil Taisersdorf, bei dem besonders an die beiden Piloten des Frachtflugzeugs erinnert wurde. Die Maschine war etwa 250 Meter von der Gemeinde entfernt in einen Wald gekracht und in Flammen aufgegangen – der Brite und sein kanadischer Kollege kamen ums Leben.
Nach einem Empfang der baden-württembergischen Landesregierung und der Stadt Überlingen ging es am späten Abend schließlich zur Andacht an der zentralen Gedenkstätte in Überlingen. Große und kleine Edelstahlkugeln liegen dort auf der Wiese. Einige sind mit Drahtseilen verbunden, sie sollen eine zerrissene Perlenkette symbolisieren. Den Tag über hatte es teils heftig geregnet, die Luft war feucht und kühl, die Bäume am Waldrand der Gedenkstätte raschelten leise. Am Himmel riss die Wolkendecke auf, im Mondlicht konnte man von der Anhöhe über weite Teile des Bodensees blicken.
Unter den Hinterbliebenen stand – hinten in der letzten Reihe – ein Mann, dessen Teilnahme zuvor für Unmut gesorgt hatte: Witali Kalojew hatte bei dem Unglück seine beiden Kinder und seine Frau verloren. Zwei Jahre später erstach er den dienstleitenden Fluglotsen – für ihn ist das 72. Licht auf dem Boden der Gedenkstätte. Der als «Fluglotsenmörder» bekanntgewordene Kalojew wirkte fast schüchtern. «Ich wollte doch nur den Ort des Absturzes besuchen, wo meine Frau und meine Kinder gestorben sind und Blumen niederlegen», hatte er zuvor gesagt.
Im Schein der Kerzenlichter stand ein großes, mit Blumen geschmücktes Herz. Ein Band teilt es in der Mitte. «So wie unser Leben, das auch geteilt ist», sagt Chammatov im Namen aller Angehörigen. «In einen Teil vor und in einen Teil nach dem Unglück.» Vielen Helfern, die in der Nacht der Katastrophe im Einsatz waren, ging die Andacht in Überlingen ebenfalls sehr nahe.
Zehn Jahre danach ist auf deutscher Seite noch immer ein beinahe hilflos anmutendes Mitgefühl zu spüren – während auf der russischen Seite neben aller Trauer auch etwas Anderes zum Ausdruck gebracht wird: «Dankbarkeit für die Hilfe und Unterstützung. Auch wenn das schon oft gesagt wurde, es sind Worte, die von Herzen kommen», sagt Chammatov. Sie seien an diesem Jahrestag nach Überlingen gekommen, um ihre Herzen und Seelen zu trösten. «Von der Trauer, die seit zehn Jahren in uns lebt.»
Quelle: Kathrin Streckenbach, dpa