Im Bieszczady-Nationalpark leben wilde Wisente, Bären und Wölfe. Die nahezu unberührte Natur im Südosten Polens geht auf ein düsteres Kapitel der Landesgeschichte zurück. Rzeszów (dpa/tmn) – Ruhig senkt er den Kopf und grast, schaut wieder auf, schnuppert kurz und grast weiter. Der junge Rothirsch steht auf einer Lichtung, keine 200 Meter entfernt. Sein Geweih ist […]

Im Bieszczady-Nationalpark leben wilde Wisente, Bären und Wölfe. Die nahezu unberührte Natur im Südosten Polens geht auf ein düsteres Kapitel der Landesgeschichte zurück.

Rzeszów (dpa/tmn) – Ruhig senkt er den Kopf und grast, schaut wieder auf, schnuppert kurz und grast weiter. Der junge Rothirsch steht auf einer Lichtung, keine 200 Meter entfernt. Sein Geweih ist noch mit weicher Basthaut überzogen. Er scheint vor Menschen keine Angst zu haben, auch dann nicht, wenn sie den Abstand bis auf wenige Meter verringern. «Er heißt Karol», sagt ein Mann, der ganz in der Nähe vor einer Holzhütte sitzt. In seiner Hand hält er ein scharfes Messer.

Der Mann stellt sich als Waldemar Witkowski vor. Der junge Hirsch sei zahm, sagt er. Er kenne dessen Mutter schon viele Jahre. Ganz in der Nähe steht friedlich eine Hirschkuh im Gras. «Katerine», ruft Witkowski. Das Tier kommt näher. Angeblich bekommen die Wildtiere kein Futter von ihm, sie scheinen seine Gesellschaft zu mögen.

Wir befinden uns im Südosten Polens, in der Nähe des Ortes Wetlina. Witkowski wohnt mehr als 40 Kilometer entfernt von hier, in der Nähe des Solina-Stausees. Dennoch kommt der über Sechzigjährige oft zur Hütte, angezogen von der Weite der Natur.

Denn hier, dicht an der Grenze zur Ukraine und zur Slowakei, in der Woiwodschaft Karpatenvorland, liegt seit 1973 der Nationalpark Bieszczady. Er ist mit mehr als 29 000 Hektar der größte Nationalpark in den polnischen Bergen. Seit 1992 gehört er zum Biosphärenreservat Ostkarpaten der Unesco. Der Name Bieszczady (Ostbeskiden) bezeichnet einen Gebirgszug der Karpaten. Gut zu sehen ist Tarnica: Der höchste Berg der Bieszczady ragt 1346 Meter empor.

Künstler in den Bergen

Witkowski sitzt im Freien. Während sein Messer flink über das Lindenholz gleitet, ruht die Brille weit vorne auf seiner Nase. Die Holzspäne fliegen zu Boden. Nach und nach schält der Künstler mit Klinge, Hobel und Pfeile eine Figur aus dem Holz.

Auf dem tiefgezogenen Dach der Hütte ist ein Schild befestigt, darauf steht mit roten Buchstaben geschrieben «Galeria nad Berehami». Vor Jahren haben mehrere Künstler die Galerie gegründet. Besucher können hier Skulpturen, Masken, Bilder, aber auch Karten der Region kaufen.

Die Hütte ist zu einer Seite offen. «Schauen Sie sich ruhig um», sagt Witkowski. In der Ecke steht ein großes Teleskop. In klaren Nächten zeigt der Gastgeber Besuchern hier auch Sterne. Der Himmel leuchtet in der Region besonders hell, hier leben wenige Menschen.

Wolf, Wisent, Bär und Co

Wolfsrudel? Klar gebe es hier Wölfe, sagt Witkowski. Meist ziehen die Tiere wie Schatten durch die Wälder. Nur nachts höre er sie manchmal heulen, wenn er im oberen Teil der Hütte übernachtet, erzählt der Künstler. Wenn er am nächsten Morgen frische Pfotenabdrücke sieht, weiß er, dass es kein Traum war.

Selten sind die Wildtiere so zahm wie Hirsch Karol. Die meisten verstecken sich tagsüber. Neben Wölfen leben im Nationalpark auch Braunbären, Luchse, Wildkatzen, Biber, Fischotter und sogar Wisente.

Der Europäische Bison wurde im Jahr 1963 wieder in Polen ausgewildert, nachdem die letzten in freier Wildbahn lebenden Tiere kurz nach dem Ersten Weltkrieg nahezu ausgerottet waren. Mittlerweile vermehren sich die Tiere wieder prächtig.

Wer die mächtigen Tiere aus sicherer Distanz beobachten will, kann ein Auswilderungsgehege besuchen. Zum Beispiel in der Nähe der Stadt Muczne. Dort werden die Wisente auf die Freiheit vorbereitet, also medizinisch untersucht und mit GPS-Sendern ausgestattet. Die Forschungsarbeit ist wichtig. Zwischenzeitlich hatte eine Seuche den Bestand der freilebenden Wisente wieder stark verringert. Ohne die Schutzprogramme würde es sie in Europa wohl nicht mehr geben.

Wisente sind meist sanft. «Begegnen Wanderer in der Wildnis einem Tier oder gar einer Herde, sollten sie sich ruhig verhalten und Abstand halten», rät Kaja Hrabal. Als Bildungsreferentin informiert sie Besucher im Auswilderungsgehege über die Tiere.

Insbesondere wenn Wisente Jungtiere haben, fühlen sie sich leichter bedroht und können mitunter aggressiv werden. Trotz des Gewichts eines Kleintransporters und einer Schulterhöhe von fast zwei Metern können die Tiere erstaunlich schnell und leichtfüßig sein.

Wisente sind mitverantwortlich für die Vielfalt der Flora und Fauna: Da sie viel Nahrung brauchen, halten sie in Waldgebieten große Flächen frei. So gibt es Mischwälder teils mit Urwaldreservaten, offene Wiesenflächen und alpine Almwiesen. Die mit Gräsern bewachsenen Kammlagen sind typisch für die Region. Sie heißen Poloninen und wachsen in über 1000 Metern, oberhalb der Baumgrenze.

Neben seltenen Pflanzen gibt es in Bieszczady viele Vogelarten. Wer den Blick schweifen lässt, kann Schwarzstörche oder Steinadler sehen. Sogar Schreiadler ziehen im Schutzgebiet ihre Kreise.

Ein düsteres Kapitel der Geschichte

Zum Teil ist die Natur hier fast menschenleer. Das liegt an einem dunklen Kapitel der polnischen Geschichte, der sogenannten Aktion Weichsel: Nach dem Zweiten Weltkrieg entschied das kommunistische Polen, in der Gegend keine Minderheiten mehr zu dulden. Ziel war ein ethnisch homogener Nationalstaat. So mussten im April 1947 viele Ukrainer sowie Bojken und Lemken ihre Heimat verlassen. Sie wurden aus den Grenzgebieten im Südosten in die nach dem Krieg sogenannten Wiedergewonnenen Gebiete im Norden und Westen umgesiedelt.

Das polnische Militär kam zu jenen, die nicht gehen wollten. Es gab bürgerkriegsähnliche Zustände. Ukrainer, darunter Anhänger der ukrainischen Aufstandsarmee UPA, versteckten sich damals unter anderen in den Wäldern. Ihre Versorgung wurde gekappt, große Teile der Region wurden entvölkert und nach der Zwangsumsiedelung viele Häuser und Kirchen verbrannt.

Vereinzelt finden Wanderer noch heute Überreste alter Friedhöfe oder früherer Siedlungen. Im Ort Ulucz überstand etwa nur eine orthodoxe Holzkirche einen solchen Brand. Weitere Beispiele: das verlassene Dorf Hroszowka oder die Bunker aus Stahlbeton, die bei Jablonica Ruska im Dickicht der Wälder erhalten geblieben sind.

Reiten, Radfahren, Rafting und mehr

Besucher können die Landschaft unterschiedlich erkunden, etwa auf zahlreichen Wanderwegen, per Fahrrad, in einer 100 Jahre alten Schmalspurbahn, mit einer Fahrrad-Draisine oder auf dem Rücken von Pferden. Die Region ist bekannt für ihre Huzulen-Pferde. Die kleinen Bergpferde gelten als besonders sanftmütig und trittsicher. Einige Reiterhöfe bieten Kutschfahrten oder Ausritte an. Geübte Reiter können dann über saftige Wiesen und sanfte Hügel galoppieren.

Wer nahe der ukrainischen Grenze ist, sollte auf zwei Dinge achten. Erstens: die mobilen Daten beim Handy ausstellen. Sonst kann es teuer werden, weil hier das EU-Roaming nicht mehr greift. Zweitens: im Nationalpark immer auf den markierten Wegen bleiben.

Die Natur können Besucher auch auf dem Wasser erleben. Der San ist ein Nebenarm der Weichsel. Wenn der Wasserstand es erlaubt, können Urlauber ein Paddelboot ausleihen, sich auf dem breiten Fluss stromabwärts treiben lassen und dabei das saftige Grün des San-Tals genießen. Zwischendurch heißt es: Kräftig paddeln! An einigen Stellen gibt es Stromschnellen, die während der sonst eher entspannten Raftingtour für etwas Bauchkribbeln sorgen.

Im Norden fließt der San in den Solina-Stausee, den größten Stausee Polens, der in den 1960er Jahren gebaut wurde. Mittlerweile gibt es dort Campingplätze, Hotelanlagen sowie zahlreiche Wellness- und Sportangebote. Urlauber können etwa tauchen, windsurfen, angeln sowie mit Segel-, Paddel-, Ruder- und Ausflugsbooten fahren.

Holzkirchen, Ikonen und Kulturgeschichte

Auch für Kulturinteressierte ist die Region sehenswert. In Sanok stellt das Freilichtmuseen zum Beispiel auf 38 Hektar die Geschichte der polnisch-ukrainischen Grenzgebiete dar. Die mittelalterliche Altstadt thront über dem idyllischen San-Tal. Im Historischen Museum, das sich in einem Schloss aus dem 16. Jahrhundert befindet, gibt es eine große Ikonensammlung. Auch Werke des zeitgenössischen Künstlers Zdzislaw Beksinski werden dort ausgestellt.

Weiter nördlich gibt es viele Holzkirchen, die 2003 in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen wurden. Eine Kirche steht zum Beispiel in Blizne, eine andere in Haczow. Diese gilt als die größte gotische Holzkirche in Europa. Sie wurde 1388 errichtet.

Info-Kasten: Nationalpark Bieszczady

Anreise: Nach Krakau gibt es Direktflüge von verschiedenen deutschen Flughäfen. Alternativ mit Umsteigen in Warschau nach Rzeszow. Von dort weiter mit dem Mietwagen.

Sprache und Währung: Polnischkenntnisse sind hilfreich, nicht überall sprechen die Menschen Englisch oder Deutsch. Ein Euro sind 4,27 Polnische Zloty (Stand: Juli 2019).

Wandern: Im Ort Ustrzyki Gorne laufen mehrere Wanderwege der wilden Bergwelt der Bieszczady zusammen, insgesamt haben sie eine Gesamtlänge von 206 Kilometern. Wanderungen in den Nationalpark starten etwa in Lutowiska, Wetlina, Ustrzyki Gorne und Wolosate.

Wisente: Die Auswilderungsstation (Stuposiany 4, Muczne 38-713) hat täglich von 9.00 bis 19.00 Uhr offen. Der Besuch ist kostenlos. Wer an einer Führung teilnehmen will, sollte sich vorab anmelden.

Fahrrad-Draisine: Die Touren starten und enden in dem Ort Uherce Mineralne. Die Strecke führt durch die Landschaft des Bieszczady. Adresse: Uherce Mineralne 62a, 38-623 Uherce Mineralne.

Informationen: Polnisches Fremdenverkehrsamt, Hohenzollerndamm 151, 14199 Berlin (Tel.: 030/21 00 920, www.polen.travel/de).