Mérida, 10. Mai 2017 Das ölreiche Venezuela versinkt im Chaos von Hunger und Gewalt. Doch in Mérida fährt mit Hilfe aus der Schweiz seit 2016 die höchste und längste Pendelseilbahn der Welt. Das Problem: es gibt keine Touristen und sie ist noch nicht bezahlt. Eine Parabel auf Venezuelas Irrsinn. Auch in 4765 Metern Höhe gibt […]

Mérida, 10. Mai 2017

Das ölreiche Venezuela versinkt im Chaos von Hunger und Gewalt. Doch in Mérida fährt mit Hilfe aus der Schweiz seit 2016 die höchste und längste Pendelseilbahn der Welt. Das Problem: es gibt keine Touristen und sie ist noch nicht bezahlt. Eine Parabel auf Venezuelas Irrsinn.

Auch in 4765 Metern Höhe gibt es kein Klopapier. Dabei ist die Bergstation „Pico Espejo“ vom allerfeinsten: Wie ein auf der Bergspitze gelandetes Raumschiff, blau schimmernde Panoramafenster geben den Blick frei auf das Andenpanorama. In Caracas fehlt den Bäckern das Mehl für das Brot. Hier, hoch oben über der Stadt Mérida, gibt es eine venezolanische Variante der Schwarzwälder Kirschtorte.

Eine fast perfekte Inszenierung, wären da nicht die Toiletten: Alles blitzeblank, feine Edelstahl-Halter – aber eben kein Klopapier. Der eklatante Mangel lässt sich auch hier nicht kaschieren. Im Land mit den größten Ölreserven der Welt fehlt das Geld, um genug Klopapier einzuführen. Wegen der lange sprudelnden Ölmilliarden setzten die Sozialisten auf den Import, statt mehr selbst zu produzieren. Und ließen mit Hilfe aus Europa ein Jahrhundertprojekt realisieren.

«Willkommen in der längsten, höchsten, modernsten und sichersten Seilbahn der Welt», dringt eine Frauenstimme aus Lautsprechern, dazu dudelt besinnliche Musik vom Band. Es folgt ein Loblied auf Hugo Chávez, auf seine 1999 begonnene sozialistische Revolution. „Chávez war ein Träumer, er dachte, er könnte mit den Ölmilliarden alles aus dem Hut zaubern“, sagt einer, der hier mitgebaut hat.

Natürlich sind einige Gondeln in den gelb-blau-roten Farben Venezuelas gestrichen. 45 Minuten ist man unterwegs. Es gibt noch eine Gondelseilbahn auf einen Gletscher in China, die höher ist, aber – so betont man in Venezuela – es gebe nirgends so eine Pendelseilbahn. Während Gondelbahnen über ein ständig umlaufendes Seil gezogen werden, fährt eine Pendelbahn ein Seil entlang, hin und her.

Für viele ist das mit Hilfe aus Europa entstandene Jahrhundertprojekt nun ein Symbol von Größenwahn und ökonomischem Irrsinn. Heute fehlt sogar Papier und Tinte, um größere Scheine im Kampf gegen die höchste Inflation der Welt zu drucken. 18 Jahre Sozialismus, der Ölpreis unter 50 Dollar – das bugsiert Venezuela an den Rand des Ruins.

Während auf den Straßen zuletzt Menschen bei Protesten gegen Chávez‘ Nachfolger Nicolas Maduro durch Kopfschüsse starben, ist es auf der Bergstation himmlisch schön. Eine Oase im Chaos, eine Parallelwelt.

Pedro Olivares hat harte Monate hinter sich, er ist der Vertreter des Seilbahnweltmarkführers Doppelmayr in Venezuela. Doppelmayr hat im letzten Geschäftsjahr 834 Millionen Euro Umsatz gemacht und bisher 14 700 Anlagen weltweit gebaut. „Als Venezolaner bin ich sehr stolz, das ist eine großartige Arbeit“, sagt Olivares. Hinter ihm liegen fünf Jahre Arbeit, eines der schwierigeren Projekte der Firmengeschichte.

Auch, weil normalerweise eine Bahn von oben nach unten gebaut wird, berichtet ein beteiligter Ingenieur. Der Initiator, Venezuelas 2013 verstorbener Präsident Hugo Chávez, wollte aber von unten nach oben bauen lassen, damit man den Bauortschritt besser sieht. Zudem wurden die von der venezolanischen Seite geplanten edlen Stationen teurer, statt 48 Millionen Euro kostete das Gesamtprojekt so 106 Millionen.

Doppelmayrs Tochterfirma Garaventa aus der Schweiz hat die Bahnlinie gebaut, die einen Höhenunterschied von über 3000 Metern überwindet. Olivares hat schon in ganz Südamerika Seilbahnen geplant, in La Paz (Bolivien) gibt es heute das größte urbane Netz der Welt, von der Satellitenstadt El Alto (4100 Meter) gondeln jeden Tag die Menschen zur Arbeit in den Kessel von La Paz. Fast 70 Millionen Passagiere seit 2014. Von so einer Auslastung kann man in Mérida nur träumen.

In Zeiten von Klimawandel und erschöpften Potenzialen sind Seilbahnen in Südamerika für Doppelmayr ein lukratives Feld. Das Meisterwerk der Ingenieurskunst in Mérida hat aber zwei große Haken, die das ganze Dilemma des einst so reichen Landes widerspiegeln. Erster Haken: 12,8 Millionen Euro sollen noch nicht bezahlt sein. Doppelmayr will sich dazu nicht äußern, hat aber wegen der offensichtlichen Geldnöte der sozialistischen Regierung ein anderes Seilbahnprojekt in Caracas jüngst erst einmal gestoppt. Chávez‘ Nachfolger Maduro hat kein Geld mehr, er hat auch schon den Großteil der Goldreserven verscherbelt.

Das Land steht vor dem Ruin, fast monatlich sind milliardenschwere Auslandsschulden zu begleichen. Auch deshalb fehlt scheinbar Geld zum Beispiel zur Einfuhr von Toilettenpapier. Aber auch, weil zum Beispiel das Benzin so massiv subventioniert wird, dass es um ein Vielfaches günstiger ist als Wasser. Für eine Seilbahnfahrt, die für Einheimische 6000 Bolivares kostet (nach dem Schwarzmarktkurs 1,30 US-Dollar), gibt es an der Tankstelle 1000 (!) Liter Benzin.

Ausländer, die mit ihren Devisen das sozialistische Seilbahnprojekt ans Laufen bringen sollen, müssen 50 US-Dollar pro Fahrt zahlen. Aber seit der Eröffnung im Oktober 2016 kamen gerade einmal 480 Touristen.

Das führt zum zweiten Haken: Touristen machen um Venezuela einen weiten Bogen. Es ist wegen der Krise eines der gefährlichsten Länder der Welt. Auch Einheimische sind an diesem Tag in überschaubarer Zahl unterwegs zum Gipfel, so bleiben die 360 Mitarbeiter in der Mehrheit. Pro Stunde könnten mit der Seilbahn 300 Passagiere fahren.

Wohl weil das Ganze etwas aus der Zeit gefallen wirkt, hat Maduro, der sonst jede neue Busstation mit Brimborium einweiht, sich hier zur Eröffnung nicht blicken lassen. Als wäre es ihm peinlich.

Die Länge beträgt 12,5 Kilometer. Es geht über fünf Stationen, von 1577 Metern auf 4765 Meter. Oben ausgestiegen, gibt es einen Weg zu einer Plattform, von der man einen großartigen Blick auf den Pico Bolívar hat (4978 Meter), den höchsten Berg Venezuelas, benannt nach dem Befreier von der spanischen Kolonialmacht. Eine weiße Marienfigur begrüßt die wenigen Gäste.

In Zeiten, in denen Menschen im Müll nach Essbarem suchen, sehen viele Venezolaner die Seilbahn als völlig irrwitziges Projekt. Damals, 2011, als es den Auftrag für Doppelmayr gab, war der Ölpreis halt noch hoch. Und die alte, von 1960 stammende Seilbahn war marode.

Chávez wollte etwas, dass das neue Venezuela symbolisiert. Statt Baracken als Zwischenstationen verspiegelte Prachthallen. In der Station Montaña (2436 Meter) gibt es eine Bar mit weißer Marmortheke und roten Designmöbeln. „Sind aus Italien eingekauft worden“, sagt ein Mann, der seinen Namen lieber nicht nennen will. Es gibt einen kleinen Konzertsaal. Eine Station höher, La Aguada (3452 Meter), kann man feinste Schokolade kosten. Man will nicht wissen, wie defizitär das hier sein muss. Und muss zwangsläufig an die vielen Schlangen vor oft leeren Supermärkten und Apotheken da unten im Land denken.

„Das ist eine Arbeit der ersten Welt, ein Stolz für Venezuela, ein revolutionäres Projekt unseres Präsidenten Maduro“, sagt trotz allem der Chef der staatlichen Seilbahngesellschaft Ventel, José Gregorio Rojas. Bald würden mehr Touristen kommen. „Wir sind dabei, Abkommen mit internationalen Airlines zu suchen.“ Doch die stellen seit 2015 reihenweise den Betrieb in das Krisenland ein. Damit trotzdem niemand schlecht über diese Rekordbahn redet, empfängt eim Konterfei mit den Augen von Hugo Chávez die Passagiere beim Ausstieg in der Talstation. Darüber der Spruch: „Aqui no se habla mal de Chávez.“ Zu Deutsch: „Hier spricht man nicht schlecht über Chávez.“

Georg Ismar, dpa