Frankfurt/München, 19. März 2017 Hunderttausende Passagiere und Arbeitnehmer sind jeden Tag auf dem größten deutschen Flughafen unterwegs. Dass in dem großstadtähnlichen Gewusel auch Obdachlose leben, merken nur wenige. Mit Rucksack, Taschen oder Gepäckwagen versuchen viele Obdachlose im geschäftigen Treiben des Frankfurter Flughafens als Reisende durchzugehen. Ihre Verwahrlosung können aber nicht alle verbergen. Andere ziehen auf […]

Frankfurt/München, 19. März 2017

Hunderttausende Passagiere und Arbeitnehmer sind jeden Tag auf dem größten deutschen Flughafen unterwegs. Dass in dem großstadtähnlichen Gewusel auch Obdachlose leben, merken nur wenige.

Mit Rucksack, Taschen oder Gepäckwagen versuchen viele Obdachlose im geschäftigen Treiben des Frankfurter Flughafens als Reisende durchzugehen. Ihre Verwahrlosung können aber nicht alle verbergen. Andere ziehen auf der Suche nach Pfandflaschen mit auffällig großen Müllsäcken durch das Terminal. „Bis zu 200 verschiedene Wohnsitzlose halten sich am Tag zu unterschiedlichen Zeiten am Flughafen auf“, berichtet Sozialarbeiterin Kristina Wessel. „Zwischen 50 und 60 von ihnen verlassen den Flughafen fast nie, einige von ihnen schon seit Jahren nicht.2 Die 31-Jährige ist die erste Streetworkerin für Wohnsitzlose an einem deutschen Flughafen.

Am Airport in München sind nach Einschätzung von Flughafenseelsorger Stefan Fratzscher etwa 50 bis 60 verschiedene Obdachlose regelmäßig zu sehen. Genau lasse sich das aber nicht sagen: „Manche verstecken sich völlig.“ Andere verhielten sich dagegen sehr auffällig. Die Kirchlichen Dienste verhandelten gerade mit dem Flughafenbetreiber über ein Streetworkprojekt, das noch in diesem Jahr beginnen solle. Dafür hätten sich die Münchner sowohl mit Frankfurt als auch mit Zürich ausgetauscht, wo Obdachlose schon länger vorbildlich betreut würden. In München seien zwei Streetworker vorgesehen, sagte der Sprecher des Flughafenbetreibers, Florian Steuer.

Kristina Wessels Arbeitgeber, das Diakonische Werk, stellt für den größten deutschen Airport fest: „Die Anzahl wohnungsloser Personen und psychisch auffälliger Menschen am Frankfurter Flughafen ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.“ Daher wurde vor rund einem halben Jahr die Stelle für aufsuchende Sozialarbeit geschaffen. Bezahlt wird sie größtenteils von der Stadt. Die Terminals gelten nach der Rechtssprechung als öffentliches Gelände, wie Jörg Machacek vom Flughafenbetreiber Fraport sagt. Fraport stellt das Büro; die Zusammenarbeit sei gut, lobt Sozialarbeiterin Wessel.

„Ziel ist es, die Menschen zurück in die Gesellschaft zu bringen“, beschreibt sie ihre Aufgabe. Bei einigen ist das ein langer Weg. Viele waren lange Zeit weder bei Ärzten noch bei Ämtern, „oder sie sind durch das gesamte Hilfesystem gerasselt“. Mindestens sechs Menschen haben den Flughafen inzwischen dauerhaft verlassen, sie sind zurück in ihren Heimatländern oder wurden an die Angebote des Frankfurter Zentrums für Wohnungslosenhilfe der Diakonie, „Weser5“, vermittelt. Eine Frau habe sich nach eineinhalb Jahren Leben am Flughafen in die Psychiatrie einweisen lassen.

Etwa ein Drittel der Wohnungslosen am Flughafen seien Frauen, anderswo liege ihr Anteil bei einem Viertel, sagt der Leiter von „Weser5“, Jürgen Mühlfeld. Viele der Frauen seien psychisch erkrankt. «Psychisch Kranke, die auf der Straße leben und sich als gesund empfinden, sind die schwierigsten Fälle», sagt der Sozialarbeiter. Die größte Gruppe mit mehr als 50 Prozent seien aber nicht-deutsche EU-Bürger, vor allem Rumänen und Polen.

Trotz der für Sammler sperrigen Mülleimer und der Automaten mit der Aufschrift „Spende Dein Leergut“ können die Menschen am Flughafen vor allem vom Flaschensammeln leben. „Gerade viele ausländische Gäste kennen weder Mülltrennung noch Pfand“, nennt Wessel einen Grund. Zudem bleiben viele Flaschen zurück, weil sie die Passagiere vor der Sicherheitskontrollen abgegeben müssen.

Das Pfand reiche den meisten Wohnsitzlosen zum Leben, etwa für den Einkauf im Flughafen-Supermarkt. Manche betteln auch um ein paar Euro – etwa an den Parkscheinautomaten in den riesigen Tiefgaragen oder an den Schnellimbissen. In dem sogenannten Foodcourt in Ebene Null sammeln sich zur Mittagszeit viele Bedürftige auf der Suche nach Essen oder ein paar Euro. „Die Fluggäste sind meist lockerer drauf als die Menschen in der Stadt“, sagt Wessel. Und damit auch freigiebiger.

Wenn es zu viel wird, schreitet der Flughafen-Sicherheitsdienst ein. „Wir versuchen, harte Maßnahmen wie Platzverweise zu vermeiden“, beschreibt Machacek die Unternehmensphilosophie. „Wir sehen als Flughafen die Not der Menschen und möchten auch dazu beitragen, sie zu lindern. Aber wir sind auch unseren Kunden, den Fluggesellschaften und Passagieren, verpflichtet.“

Schlafplätze finden die Obdachlosen an vielen Stellen in den Terminals, in den Parkhäusern und deren Treppenhäusern. Sie legen sich unter anderem auf die Bänke, auf denen auch Reisende übernachten, wenn sie auf einen frühen Flieger warten. Einige schlafen im Sitzen, um nicht aufzufallen, wie Wessel sagt.

Warum zieht es die Obdachlosen an den Flughafen? „Das ist eine Welt für sich, und es ist alles da, was man braucht“, sagt Mühlfeld. Neben dem scheinbar unerschöpflichen Reservoir an Pfandflaschen und vielen Essensstellen nennt er Duschen und Toiletten sowie den Schutz vor Wetter und Kälte. Das Leben im Flughafen bedeute für Menschen, die auf der Straße leben, zudem auch Schutz vor Gewalt. „Sie sind nicht unbeobachtet und irgendwo abgehängt unter Brücken.“ Stattdessen fühlten sie sich als Teil des prallen Lebens am gepflegten Airport.

Kristina Wessel trifft bei ihren Rundgängen im Terminal 1 tagsüber meist 20 bis 40 ihrer Klienten an, nachts sind es bis zu 50. Sie begleitet die Bedürftigen zu Ämtern oder zum Arzt – erste Anlaufstelle sei häufig die Elisabeth-Straßenambulanz, die sich der gesundheitlichen Situation Wohnungsloser annimmt. Die Verständigung funktioniert mit Händen und Füßen und ein paar Brocken Polnisch zum Beispiel. Wessel sagt: „Ein großer Teil ist unglaublich glücklich, dass sich jemand um sie kümmert.“

Ira Schaible, dpa