Siauliai, 18. Juli 2017 Nato-Abfangjäger haben 2016 so viele Alarmstarts absolviert wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Ein Grund: Flugbewegungen russischer Maschinen über der Ostsee. Besuch bei einer Übung für den Ernstfall. Der Militärfrachter «Gediminas» hat schon viel durchgemacht. Die Maschine der litauischen Luftwaffe ist vor allem dann gefragt, wenn es heikel wird. Mit […]

Siauliai, 18. Juli 2017

Nato-Abfangjäger haben 2016 so viele Alarmstarts absolviert wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Ein Grund: Flugbewegungen russischer Maschinen über der Ostsee. Besuch bei einer Übung für den Ernstfall.

Der Militärfrachter «Gediminas» hat schon viel durchgemacht. Die Maschine der litauischen Luftwaffe ist vor allem dann gefragt, wenn es heikel wird. Mit dem Transportflugzeug vom Typ C-27J Spartan wurden Soldaten des größten Baltenstaats zu Auslandseinsätzen und Hilfsgüter in Krisengebiete wie etwa Afghanistan oder Zentralafrika geflogen. Auch bei der Nato-Übung «Ramstein Alloy 4» startete der Lufttransporter vom litauischen Militärflughafen in Siauliai zu einem besonderen Einsatz – als Lockvogel über dem heimischen Himmel.

Bei dem Luftmanöver simulieren Nato-Kampfjets eine Operation zur Identifizierung und Begleitung eines Zivilflugzeugs, das den Funkkontakt zur Flugsicherung verloren hat. Ohne Kennung ist es im Luftraum an der Nato-Ostgrenze über Litauen unterwegs. Hoch oben über der Ostsee müssen die Jagdflieger deshalb nahe an die unbekannte Maschine heranfliegen. Per Sichtkontakt ist von den Piloten zu prüfen, ob von einem verdächtigen Luftfahrzeug eine Gefahr ausgeht oder es an Bord der Maschine eine ungewöhnliche Situation gibt.

«Solche Übungen erlauben uns, komplexe Flugkoordinierungsverfahren durchzuführen, mit denen die Sicherheit und Gefahrenabwehr im Nato-Luftraum sichergestellt wird», erklärt der britische Nato-General Paddy Teakle. Was an diesem Tag eine Übung ist, kann jederzeit Realität werden: Nach Nato-Angaben gab es 2016 im europäischen Luftraum mehr als 500 Vorfälle, bei denen der Funkkontakt zu zivilen Flugzeugen verloren wurde. In 76 Fällen musste eingegriffen werden.

Auch im deutschen Luftraum kommt es solchen im Nato-Jargon auch «Commloss» genannten Situation. Weil im März über Norddeutschland der Kontakt zu einem Passagierflugzeug minutenlang abgebrochen war, wurde vorsichtshalber Alarm geschlagen: Abfangjäger der Luftwaffe stiegen auf, mehrere Atomkraftwerke wurden vorübergehend geräumt.

Gleich zwei Mal sind am Wochenende Bundeswehrjets aufgestiegen, weil Passagiermaschinen keinen Funkkontakt mehr gehabt haben: Am Samstag zwangen zwei Bundeswehrjets eine Korean-Air-Maschine auf dem Weg von Seoul nach Zürich zur Landung in Stuttgart. Grund war ein unterbrochener Funkkontakt zu der Boeing 777. Daraufhin waren die Abfangjäger aufgestiegen. Am Freitagabend hatte eine ägyptische Passagiermaschine Überschallflüge zweier Bundeswehrjets in der Grenzregion von Hessen und Bayern ausgelöst. Auch in dem Fall hatten die Behörden keinen Funkkontakt herstellen können und die Luftwaffe alarmiert.

Die Gründe für den Ausfall der Kommunikation können vielfältig sein: Eine Flugzeugentführung, eine technische Störung oder einfach nur ein Bedienungsfehler der Crew. Reagieren die Piloten der betroffenen Maschine nicht auf Kontaktversuche, wird Alarm ausgelöst. Aus Sicherheitsgründen machen sich Nato-Abfangjäger startklar, um die Situation aufzuklären. Notfalls müssen sie das Flugzeug abdrängen, um einen Kurswechsel zu erzwingen.

Wird ein Flugzeug aus terroristischen oder anderen Motiven als Waffe verwendet und zum Beispiel auf ein Atomkraftwerk gesteuert, spricht man von einem «Renegade»-Fall. Die Befehlsgewalt für dessen Abwehr liegt allein in nationaler Verantwortung – in Deutschland beim Bundesverteidigungsminister. Die Nato ist nicht dann berechtigt, Entscheidungen etwa zum Waffeneinsatz zu treffen. 

Das standardisierte Einsatzverfahren bei Funkverlust greift nicht nur bei zivilen Jets, sondern auch bei Militärmaschinen. Dazu hat der Nato-Gefechtsstand für die Luftverteidigung in Uedem am Niederrhein einen ganz genauen Blick auf den Himmel über die nördliche Hälfte Europas. Dort kontrolliert ein Team internationaler Soldaten an blinkenden Radarschirmen die Flugbewegungen über der Nord- und Ostsee bis hin zu den Alpen. Der Bereich südlich davon wird im spanischen Torrejon bei Madrid überwacht.

Auch die Sicherung des Nato-Luftraums – das sogenannte «Nato Air Policing» – wird von den Kommandozentralen aus gesteuert. Rund 870 Alarmstarts ordneten die beiden Gefechtsstände nach Nato-Angaben im vergangenen Jahr an – so viele wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. In den meisten Fällen waren russische Militärflugzeuge, die den Hoheitsgebieten der Nato-Staaten nahe kamen, der Auslöser.

«Es hat einen Aufschwung bei den russischen Aktivitäten gegeben», sagt Teakle. Grund dafür sei vor allem das militärische Eingreifen Russlands in den Syrien-Konflikt. Auch über der Ostsee und dem Schwarzen Meer seien seit Beginn der Ukraine-Krise mehr russische Militärflieger gesichtet worden. Beunruhigt ist der Nato-Kommandant deshalb jedoch nicht. «Ich denke nicht, dass es unerwartet kam, allzu dramatisch ist oder übermäßig betont werden muss», kommentiert Teakle betont gelassen. «Wir kommen damit klar. Wir haben die Mittel an Ort und Stelle, um damit fertig zu werden.»

Nach der Annexion der Krim durch Russland 2014 hatte die Nato als Zeichen der Bündnissolidarität die Luftraumüberwachung über den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen verstärkt. Nirgendwo anders kommen sich die Streitkräfte der Nato und Russlands so nahe wie im internationalen Luftraum über der Ostsee, der dort an der schmalsten Stelle weniger als fünf Kilometer breit ist. 

Bedenklich aus Sicht des westlichen Bündnisses ist dabei, dass Moskaus Maschinen oft unangemeldet und ohne elektronische Kennung unterwegs sind. Auch Funkkontakt werde nach Nato-Angaben häufig vermieden. Den Navigationsanlagen der zivilen Luftsicherung, die anders als militärische Radarsysteme keine ohne Erkennungsignal fliegenden Flugzeuge erkennen können, bleiben deren Flugbewegungen damit verborgen. 

Nähern sich russische Flugzeuge ohne sich zu identifizieren den Grenzen der baltischen Staaten, gibt die Nato das Kommando zum Start einer Alarmrotte. Gebildet wird diese aus zwei bewaffneten Kampfjets, die zur Luftraumüberwachung im estnischen Ämari und im litauischen Siauliai stationiert sind. Innerhalb von 15 Minuten müssen sie in der Luft sein – das ist Nato-Vorgabe beim Alarm Quick Reaction Alert (QRA). Von welchem Standort aus sie ausrücken, entscheidet der Gefechtsstand in Uedem.

Bei der Übung werden die Alarmrotten an beiden Standorten alarmiert. Mehrere Minuten später steigen in Ämari zwei deutsche Eurofighter und in Siauliai zwei niederländische F-16 mit ohrenbetäubendem Lärm steil in den Himmel auf. In einem Tempo knapp unter Schallgeschwindigkeit nehmen die Abfangjäger Kurs in Richtung Ostsee – und machen sich auf die Suche nach «Gediminas». Der blindfliegende Lockvogel kreist bereits in gut 7000 Meter Flughöhe über den Wolken.

Geführt werden die Jets aus Uedem und dem Luftüberwachungszentrum im litauischen Karmaleva. Unterstützt werden die beiden Bodenstationen beim Manöver von Nato-eigenen AWACS-Aufklärungsflugzeugen, die als fliegende Gefechtsleitstände eingesetzt werden. AWACS steht für «Airborne Early Warning and Control System» – das Luft-Frühwarnsystem der Nato. 

«Gediminas» ist damit leicht ausfindig zu machen. Der Militärfrachter ist knapp 23 Meter lang, fast 10 Meter hoch und hat eine Spannweite von rund 29 Metern. Mit kräftigem Schub hebt die zweimotorige Propellermaschine mit riesigem Rumpf von der Startbahn ab, schraubt sich bei regnerischem Wetter laut in die Höhe und kurvt mit rund 500 Kilometern pro Stunde wendig über der Ostsee. 

Plötzlich tauchen seitlich neben ihr wie aus dem Nichts die beiden niederländischen Jagdflieger auf, wenig später stößt auch noch die deutsche Alarmrotte dazu. Die F-16 und Eurofighter schieben sich von rechts hinten in Sicht und kommen schnell näher. Die Piloten wackeln mit den Flügeln ihrer Kampfjets, geben Handzeichen und fliegen parallel zu dem für sie im Ernstfall fremden Flieger, um ihn zu identifizieren und durch den Luftraum zu begleiten.

«Wir nähern uns und klären auf, mit welcher Art von Fluggerät wir es zu tun haben», erklärt ein niederländischer Pilot im Rang eines Hauptmanns das Vorgehen. Bestimmt werden dabei der Flugzeugtyp und die Position der abgefangenen Maschine. Damit ist dann auch die Flugsicherung im Bilde. Denn bei Nato-Jets sei stets der Transponder eingeschaltet, der die elektronische Kennung und Flugdaten von Militärmaschinen auch an die zivilen Lotsen übermittelt. 

Nur wenige Meter sind die beiden Alarmrotten von der Flügelspitze von «Gediminas» entfernt. Die Nato-Piloten mit ihren grauen Helmen und schwarzen Visieren sind in ihrem Cockpit dabei klar zu erkennen. Gut sichtbar ist auch die Bewaffnung am Rumpf, mit der die Kampfjets in der Luft unterwegs sind. Zur angehängten Nato-Standardausrüstung zählen eine Kanone, Infrarot-Kurzstreckenraketen, ein elektronisches Abwehrsystem und radargesteuerte Mittelstreckenraketen.

Einsetzen dürften die Piloten ihre Waffen aber nur im äußersten Notfall – bei einem Angriff auf sie selbst. Zu wirklich ernsten Zwischenfällen oder brenzligen Situationen in der Luft ist es nach Aussage des niederländischen Piloten bislang aber nicht gekommen. Dass russische Flugzeuge aggressiv in den Nato-Luftraum über den baltischen Staaten eindringen, komme praktisch nicht vor. Auch ein tatsächlicher Luftangriff der Russen auf die drei Ex-Sowjetrepubliken gilt nach Einschätzung von Militärexperten als unwahrscheinlich.

Doch was bezwecken die Russen dann mit ihren Flugbewegungen und warum kommt es überhaupt zu Vorfällen am baltischen Himmel? «Ich kann nicht wirklich eine Antwort darauf geben, ob es gerade Teil ihrer Trainingslehre ist, ob es sich um eine absichtliche List handelt, damit wir die Alarmstarts auslösen müssen. Darüber lässt sich nur spekulieren», meint Teakle. Rein aus Zufall passiere es aber nicht. «Es sollte keinen technischen Grund geben, warum sie ohne eingeschalteten Transponder fliegen.»

Russland gibt die Vorwürfe zurück: Auch die Nato-Flugzeuge ließen ihre Transponder oft ausgeschaltet. Präsident Wladimir Putin beklagte im letzten Herbst, die Nato sei nicht auf den Vorschlag eingegangen, über der Ostsee generell nur mit dem Signalgeber zu fliegen. Dabei sei es gar nicht sein Vorschlag, sondern der des finnischen Präsidenten Sauli Niinistö gewesen.

Für die russischen Militärflugzeuge sei das Fliegen mit Transponder nicht so leicht. «Da gibt es technische Gründe, da gibt es militärische Gründe», sagte Putin. Zu den technischen Gründen dürfte gehören, dass viele russische Flugzeuge angeblich gar nicht mit einem Transponder ausgerüstet sind. Dies berichten zumindest frühere russische Offiziere und Militärexperten. 

Verboten sind die Flüge ohne Erkennungssignale im internationalen Luftraum nicht. Doch stellen sie nach Ansicht der Nato eine Gefahr für den zivilen Luftverkehr dar. Deshalb greifen die Nato-Abfangjäger als eine Art Luftpolizei ein – wie sie es auch bei der zivilen Flugüberwachung tun.

Wer oder was die Piloten bei einem Alarm oben in der Luft erwartet, erfahren sie erst im Cockpit. «Man weiß bei einem Einsatz nie, was auf einen zukommt», sagt der niederländische Pilot. «Das ist die Herausforderung: Man hat nicht viel Ahnung, aber eine Menge Adrenalin und ist auf Höchstleistung.»

Nach Annäherung an die fremde Maschine wird über Notfallfrequenzen und mit visuellen Zeichen versucht, mit den Piloten in Kontakt zu treten. «Wenn wir uns über ihre Absichten im Klaren sind und die Kommunikation mit der Flugsicherung wiederhergestellt ist, dann lassen wir sie ziehen», sagt der niederländische Pilot. Die Kampfjets drehen dann ab und kehren zu ihrem Einsatzflugplatz zurück.

Nach gut einer Stunde ist die spektakuläre Übungsflugschau zu Ende. Die F-16 und Eurofighter wackeln ein letztes Mal mit den Flügeln und lassen sich zurückfallen, «Gediminas» geht in den Sinkflug und landet sicher wieder auf der Rollbahn in Siauliai. Auftrag erfüllt. Bis zum nächsten Einsatz.

Alexander Welscher, dpa